10. Mai 1970: Im Kampf gegen den Abfall

Rudolf Pilous

10.5.2020, 07:00 Uhr
10. Mai 1970: Im Kampf gegen den Abfall

© Ulrich

Um einmal zu sehen, wie schwierig dieser „Job“ eigentlich ist, warf sich unser Redaktionsmitglied Rudolf Pilous in die Kluft der Müllkutscher und werkelte einen ganzen Tag lang mit. Hier seine Eindrücke:

Mein neuer „Job“ begann am Montag mit der Einkleidung. Nur der Vertreter des Werkmeisters, Leonhard Deinert, und sein Stellvertreter Werner Lobenwein wußten, um wen es sich handelt.

Ernst wird es am Dienstag um 6.15 Uhr: die Hose ist zu lang, dafür aber für einen Schmalhüftigen gearbeitet, bei der Jacke drohen alle Nähte zu platzen, die Ärmel wiederum müssen zurückgestülpt werden. Ein nagelneuer brauner Schurz verdeckt die Fehler. Gürtel und Mütze in den Stadtfarben rot-weiß sorgen für „Schmuck“.

Während des Ankleidens hat man Zeit, den Kollegen zuzuhören. Sie haben Probleme wie jeder andere Mitbürger auch. Dem einen hat in der vergangenen Nacht ein betrunkener Autofahrer den Gartenzaun demoliert, der andere überlegt sich, wie man am Mittwoch rechtzeitig aus der Bude kommt, um den Club gegen Hessen Kassel zu sehen, der Dritte wiederum macht sich Sorgen, weil seine Frau schon längst entbunden haben müßte. Mein Spindnachbar überbrückt die Zeit bis zum Dienstantritt um 6.30 Uhr mit einem Vexierspiel.

Die Altbauten haben es in sich

Dann stehe ich meinem „Kapo“ Willi Drescher gegenüber. „Gell, damitst gleich waßt. Heit mäihmer kräftig zoulanga, weil ma an Tog eihulln möihn“. Willi meinst, daß der Himmelfahrtstag als Abfuhrtag ausfällt, und bestimmt: „Vier Fuhren pack mehr heit.“

10. Mai 1970: Im Kampf gegen den Abfall

© Ulrich

Während wir zum Tiergärtnertor fahren – die Altstadt steht zuerst auf der Saubermann-Liste – muntert mich der Fahrer Willi Böhm auf. „Mach' dir nichts draus. Mit der Zeit gewöhnst du dich schon daran.“

Georg Wörnlein, 42 Jahre alt, ist mein Einarbeiter. Unsere Aufgabe ist es, mit Hilfe eines gummibereiften Karrens die Tonnen auf die Straße zu stellen. „Die Trepp'n ro moußt man roll‘n loun, naaf mußt nan zöign.“ In Sekundenschnelle wird mir klar, warum die Mülleimer Tonnen heißen. Es ist wie beim Seilziehen: die Treppen hoch stemmt man sich in den Boden, die Treppen runter muß man ein Standvermögen haben wie eine Jahrhunderteiche bei Windstärke 12. Ganz gleich: rauf oder runter: Sehnen und Muskeln sind bis zum Zerreißen gespannt. Und dann diese kehrrichtbauerfeindliche Altstadt. Treppen über Treppen. Man kann es den Müllfahrern nicht verdenken, wenn sie knurren. Außen schauen die Altbauten ja ganz manierlich aus, aber manchmal muß man sich beinahe noch mit einem Seil in den ersten Stock hochangeln.

Gegen 8 Uhr nähern wir – der Schorsch, der Pedro, ein 27jähriger Spanier, und der Neue – uns dem Hauptmarkt. Überhaupt dieser Pedro. Unheimlich, welches Tempo er einschlägt. Ich habe schon längst keinen trockenen Faden mehr am Leib. Pedro und Schorsch aber drängen unaufhörlich zur Eile.

Ein Herr mit goldgerahmter Brille verfolgt uns scharfen Blickes, ja nichts in seinem gepflegten Hausflur zu beschädigen. Ich tu‘s auch nicht, obwohl mir danach zu Mute ist.

Um 8.15 Uhr ist endlich die Altstadt passé. Aber die Hoffnung, in der Nordstadt – um die Friedrich-. Meuschel-, Reuter- und Kaulbachstraße – gäbe es keine engen Kellertreppen, erfüllt sich nicht.

Bei mir aber schwindet die Kraft. Der Körper braucht Flüssigkeit. „Du, Pedro, ich kauf‘ mir im Laden nebenan schnell ein Bier.“ Ich sag‘s, und zwei Minuten später ist die Flasche leer.

Noch einmal überkommt mich an diesem Vormittag der große Durst. Dieses Mal übergehe ich meinen Einarbeiter Schorsch, indem ich meinen Karren einfach im Hof stehen lasse und um die Ecke renne. Hier erhalte ich mein erstes und auch einziges Trinkgeld.

Während ich meine Schorle in vollen Zügen genieße, gibt mir die Wirtin auf fünf Mark vier wieder heraus. „Paßt es so?“ fragt sie den Müllabholer augenzwinkernd. Eine Schorle kostet in Nürnberg zwischen zwei und drei Mark. Der Schorsch aber schuftet und schuftet. Er ist ein richtiger Kumpel. Obwohl er einige Lenze mehr auf dem Rücken hat als ich, übernimmt er die schwierigeren Touren. „Überanstreng dich net. Wöi iich vor drei Joahr ogfangt hob, hätt‘ i a net glabt, daß ich durchhalt‘n könnt.“

Beinahe wäre in diesem Gespräch mein Inkognito geplatzt. Fragt mich doch der Schorsch: „Wos hast‘n bisher gmacht.“ Schon wollte ich antworten, ich komme aus dem Knast und suche einen neuen Anfang. Aus wär‘s gewesen. Wer Kehrrichtbauer werden will, muß ein reines Gewissen haben. Schon eine Strafe wegen Trunkenheit im Verkehr verhindert die Anstellung!

Was die Menschen neben den Mülltonnen hinterlassen, stinkt zum Himmel. Steht doch in der Satzung: „Mülltonnen dürfen nur so weit gefüllt werden, daß ihre Deckel gut abschließen.“ Aber wer hält sich schon daran? Die Tonnen sind überfüllt, Bauschutt befindet sich darin, was ebenfalls verboten ist. der Dreck fällt herunter. Um 12 Uhr ist die Tortur endlich überstanden. Mittagszeit in einer Gaststätte in der Kaulbachstraße. Der Spaß nach der Demaskierung ist groß – aber nur eine Stunde lang. Schon um 13 Uhr müssen meine Kollegen auf Zeit wieder hinlangen. An diesem Tag bis 18 Uhr. 

Was ich, der Neue, verdient hätte? 4,16 DM in der Stunde. Dazu wären ein paar Pfennige als Kindergeld, Schmutz- und Gefahrenzulage gekommen. Robert Mohrs beispielsweise verdiente 1967 735 Mark Brutto im Monat. Er ist 24 Jahre alt und Vater von zwei Kindern. Als Neuer bekam er wie jeder andere auch die Bekleidung gestellt, aber er mußte sie selber reinigen lassen.

Warum trotzdem 180 Mann, die sogar eine Probezeit absolvieren mußten, bei der Müllabfuhr arbeiten? Vorarbeiter Willi Drescher, 42 Jahre alt, gelernter Facharbeiter, verheiratet, ein Kind, gibt die Antwort: „Als Fabrikarbeiter würde ich vielleicht auf der Straße liegen, wenn eine Krise kommt. Hier habe ich mein gesichertes Einkommen.“