10. November 1969: Neue Städte aus Pappe

B. W.

10.11.2019, 07:55 Uhr
10. November 1969: Neue Städte aus Pappe

© Fischer

Kunsterzieher Fridhelm Klein führte seine jungen Gäste durch die Ausstellung „Le Corbusier Chandigarh“, erklärte ihnen ein wenig von Städteplanung – und dann ging es an die Praxis: mit großen Pinseln, Farbe und Wellpappe machten sich die kleinen „Städtebauer“ an die Arbeit.

Der Sinn dieser Veranstaltung war, die Besucher vom passiven zum aktiven Bildungserlebnis zu führen. Das klingt sehr gelehrt, bedeutet aber ganz einfach: die Kinder sollen angeregt durch die Fotos von der Le-Corbusier-Stadt Chandigarh ihre eigenen Ideen verwirklichen, was sie dann mit roten Köpfen und Begeisterung auch taten.

Der Fußboden der Ausstellungsräume war vollkommen mit riesigen Papierbögen ausgelegt, auf denen die „Architekten“ phantastisch geformte Gebäude entwarfen, die ihrem Meister Ehre gemacht hätten. Mit oranger, schwarzer, gelber und grüner Farbe malten sie die Umrisse ihrer Zimmer, Häuser, Fabriken und Städte auf. Je nach Temperament schmückten sie sie sorgfältig aus oder beschrifteten sie großzügig genial mit Bar, Wohnraum, Schlafzimmer, Küche. Aus Wellpappe entstanden dann die Wände oder wurden Häuser mit Dächern, Türen und Fenstern, mit Balken und Stützpfeilern – streng nach statischen Gesetzen – errichtet.

Vier junge „Städteplaner“ legten es offensichtlich darauf an, Le Corbusier Konkurrenz zu machen. Sie konstruierten eine komplette Stadt mit Wolkenkratzer, einem modernen Kunstzentrum aus Pappröhren, Fabriken, Wohnhäusern und einer künstlichen Wasseranlage – „wie der Wöhrder See“, erklärte einer der „Baumeister“.

Die Eltern standen ihren Sprößlingen mit Rat und Tat zur Seite. Sie klebten und malten mit, organisierten Farbe, Scheren und Kleister. Meistens schauten sie gelassen zu, wenn sich ihre Kleinen im Eifer des Gefechts Haare, Gesichter und Kleider mit Farbe beschmierten. Nur manchmal ertönte der besorgte Ausruf: „Mach dich nicht voll!“

Nach zwei Stunden wuchsen vor den Schwarzweiß-Fotografien, die an den Wänden hängen, farbenfrohe Gebäude und Siedlungen aus dem Boden des Künstlerhauses. Mit zufriedenen Gesichtern, blauen Haaren und bunten Händen verließen die „Konstrukteure“ zusammen mit den Eltern ihre Werke und das Künstlerhaus – noch rechtzeitig genug, um die Fernsehsendung „Daktari“ anschauen zu können.

Aktives Bildungserlebnis ist zwar ganz schön, aber auch anstrengend, danach ist jedenfalls ein bequemes passives nicht zu verachten.

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