Kommentar: Pressekodex - keine Transparenz um jeden Preis
19.1.2016, 05:58 UhrJournalisten haben in Demokratien eine Wächterrolle, sie müssen kritisieren und sie müssen sich andererseits auch selbst kritisieren lassen. Selten zuvor forderten Rezipienten Letzteres so massiv ein wie jetzt. Die "Lügenpresse" steht gerade nach der Silvesternacht in Köln verstärkt unter dem Verdacht, "Gutmenschen" nach dem Mund zu reden und die schlimme "Wahrheit"“ zu unterdrücken.
Ganz konkret entzündete sich der Volkszorn daran, dass zunächst von der Polizei verschwiegen wurde, welcher Herkunft viele der übergriffigen Männer waren, die Hunderte von Frauen sexuell belästigten. Seitdem wollen Wutbürger grundsätzlich die Nationalität der Täter erfahren.
Vorsicht vor Stigmatisierung!
Doch hier hat der Presserat die Freiheit der Medien, über nahezu alles und jeden zu berichten, aus gutem Grund eingezäunt. Ziffer 12.1 des Pressekodex, eine Art Ehrenerklärung der großen Verleger- und Journalistenverbände, besagt, dass es einen sachlichen Grund für die Nennung von Nationalitäten geben muss. Die Richtlinie soll Redaktionen daran erinnern, dass Berichterstattung Vorurteile befördern kann, insbesondere gegenüber "religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten".
Stigmatisierung führt schlimmstenfalls zu Pogromen. Gerade wir sollten das wissen.
Wann hört das gefährliche Indischsein auf?
Aktuelles Beispiel. In der Nürnberger Südstadt hat unlängst ein 30-Jähriger offenbar einen 54-Jährigen erstochen. Bild meldete, der Verdächtige sei Inder. Und?
Was sagt uns das? Wem nützt es, die Nationalität eines Verbrechers zu kennen, wenn diese weder der Fahndung dient, noch, soweit wir das wissen können, ursächlich für die Tat war? Sind ab sofort alle in Nürnberg lebenden Inder potenzielle Mörder, vor denen man sich in Acht nehmen muss? Wann hört dieses scheinbar so gefährliche Indischsein auf? In der zweiten, dritten oder erst in der vierten Einwanderergeneration, oder sofort mit Erhalt der deutschen Staatsbürgerschaft?
Einige Frauen schrieben uns, dass sie nach den schlimmen Meldungen aus Köln und aus anderen Städten inzwischen die Straßenseite wechseln, wenn ihnen auf dem Gehsteig "nordafrikanisch" oder "arabisch" aussehende Männer entgegenkommen. Diese Ängste sind absolut verständlich! Aber sind sie auch rational begründbar? Laufen bei uns tatsächlich mehr muslimische Sexualstraftäter herum als deutsche?
Änderung nicht ausgeschlossen
Andererseits: Begeht jemand einen sogenannten Ehrenmord, kann es durchaus hilfreich sein, zu erfahren, welchen religiösen Hintergrund der Täter hat. Weil diese Form der Selbstjustiz vor allem bei Muslimen vorkommt. Weil Bürger dieses Landes wissen sollten, ob in ihrer Nachbarschaft Rituale gepflegt werden, die mit unseren Grundwerten ganz und gar nicht vereinbar sind. Und weil diese Tat nur so ansatzweise erklärbar wird. Eine Gesellschaft, die nichts versteht und nur geschockt ist, ängstigt sich noch mehr.
Es bleibt eine wichtige Aufgabe verantwortungsbewusster Medien (übrigens auch der Polizei), hier jeden Einzelfall genau zu betrachten und sich nicht von den derzeit so lauten Rufen nach bedingungsloser Transparenz abhärten zu lassen. Im Frühjahr will sich der Presserat mit der 30 Jahre alten Ziffer 12.1 des Pressekodex befassen. Ein eventuelles Abrücken von der bisherigen Zurückhaltung könnte die Stimmung im Land grundlegend verändern. Das sollte uns allen bewusst sein.
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