Endloser Sommer, gefährlicher Snack
20.7.2020, 19:16 UhrVon meiner Teenagerzeit trennen mich knapp 30 Jahre und etwa 2000 Kilometer. Ich bin in der Ukraine groß geworden. Einem Land, das in meiner Schulzeit noch eine der 15 Republiken der Sowjetunion war und jede Menge Helden produziert hatte. "Held der sozialistischen Arbeit" – mit dieser Auszeichnung durfte zum Beispiel jemand rechnen, wenn er in seinem Job außergewöhnlich viel Gas gegeben hat. Doch im Alltag – jenseits der Ideologie – konnten auch die goldglänzenden Medaillen und ein Foto auf der Ehrentafel des eigenen Betriebes nicht das wettmachen, was Menschen besonders schätzten: ihre Freizeit. "Ein schlechter Urlaub ist immer noch besser als ein guter Job" – diesen Satz hörte ich in der Ukraine von vielen und oft.
Drei Monate Sommerferien
Urlaub zu haben bedeutete in der Ukraine aber nicht zwangsläufig, wegzufahren. Urlaub bedeutete einfach, nicht zur Arbeit gehen zu müssen. Die meisten von uns unternahmen nur alle paar Jahre mal eine Reise ans Schwarze Meer auf die Halbinsel Krim oder an das Asowsche Meer. Wenn schon wegfahren, dann meist, um die Verwandten zu besuchen. Den größten Teil unserer Ferien verbrachten wir aber daheim. Einen Grund, uns zu bedauern, gibt es für mich jedoch bis heute nicht. Denn für die kaum vorhandene Mobilität wurden wir durch viel Zeit entschädigt. Sehr viel Zeit: Die Schulglocke läutete bei uns zum letzten Mal im Schuljahr am 25. Mai und kam erst am 1. September wieder zum Einsatz. Ganze drei Monate Ferien im Sommer, Jahr für Jahr – für uns Schüler war es wohl die beste Entscheidung des sowjetischen Kultusministeriums überhaupt.
Unsere Eltern hatten aber nicht so viel Urlaub. So haben sie das getan, was ich mir heute als Mutter nur bedingt zutrauen würde: Die Erwachsenen gingen arbeiten, wir blieben tagsüber schon im Grundschulalter alleine daheim. Je älter ich wurde, desto mehr schätzte ich diesen Umstand. Am schönsten fand ich daher meinen letzten Sommer in der Ukraine. Als 15-Jährige wollte ich damals gar nicht wegfahren. Ich wollte nichts verpassen, was meine Freunde gemeinsam erlebten. Und es gab viel zu erleben. Wir haben uns kaum bei jemandem daheim getroffen. Dafür waren die Wohnungen, die meisten in Plattenbauten, zu klein und zu heiß. Uns zog es stets nach draußen.
Auf Fahrrädern machten wir uns auf den Weg aus unserer Kleinstadt in die umliegende Natur. Die riesigen Felder, in denen man sich leicht verlieren konnte, und die vielen Teiche und kleineren Flüsse waren für uns ein Abenteuerspielplatz schlechthin. Uns ging es dabei um "Brot und Spiele". Meist haben wir die beiden allzu menschlichen Bedürfnisse miteinander verbunden und steuerten die Felder der umliegenden Kolchosen an, wie die Landwirtschaftsbetriebe bei uns damals hießen. Es wuchs dort einiges, womit wir unsere Rucksäcke vollstopfen konnten: Maiskolben, Erbsenschoten, Sonnenblumen voller reifer Kerne. Ja, wir haben geklaut. Die Gefahr, erwischt zu werden, verlieh uns einen kleinen Kick. Aber viel Angst hatten wir nie. Im schlimmsten Falle wurden wir von einem Aufseher, der ab und an auftauchte, ausgeschimpft. Die Miliz war nie im Spiel. Von der wollte sich jeder fernhalten, auch ein Aufseher. Mit allzu schlechtem Gewissen haben wir unsere Gemüter auch nicht beschwert. Denn Kolchose-Felder waren kein Privateigentum, sie gehörten dem Staat und somit uns allen. So hatten wir es uns zumindest zurechtgelegt.
Unsere Ausflüge an umliegende Flüsse erforderten dabei besonderen Mut, vor allem bei den Jungs in meiner Clique. Während wir Mädchen uns am Ufer sonnten, gingen sie ins Wasser und erkundeten alle ruhigen Plätzchen dort, in der Hoffnung, Flusskrebse zu fangen – mit ihren Händen. Das bedurfte schon einer gewissen Technik und Übung.
Manchmal kamen aber auch spezielle Kescher zum Einsatz. Um die Krebse anzulocken, verwendeten wir keine toten Fische. Stattdessen legten wir Brot und zerdrückte Knoblauchzehen hinein. Es hieß: Krebse zieht dieser starker Geruch an. Wir ließen die Kescher dann über Nacht im Fluss und radelten am nächsten Morgen hin, um nach unserer Ausbeute zu sehen.
Es war mit ein bisschen Anspannung verbunden. Denn immer wieder kamen uns unsere Kescher abhanden, weil sich jemand daran bedient hatte. Doch oft konnten wir mit einer riesigen Tasche voller Krebse heimfahren.
Dabei traten wir besonders stark in die Pedale, denn Krebse müssen noch am Leben sein, wenn man sie zum Verzehr kocht. Diese Aufgabe übernahmen wir abwechselnd. Wer mit der Zubereitung der Krebse dran war, musste darauf achten, dass der Topf groß genug war. Wichtig war dabei, das Salz richtig zu portionieren, sonst schmeckte das Krebsfleisch nicht so gut. Für einen besseren Geschmack legten wir noch ganz viel Dill in den Topf.
Auch ich war immer wieder an der Reihe mit dieser Aufgabe. Heute kann ich es kaum glauben und bin etwas irritiert, wie ruhig ich blieb, als die Krebse im Wasser starben, ihre Farbe vom bräunlichen Grün ins Rot wechselte, und wie freudig ich dann die große Schüssel mit den fertig zubereiteten Krebsen in den Innenhof unseres Mehrfamilienhauses schleppte. Die hungrige Bande wartete schon darauf. Aber damals hatte ich eben noch ganz andere Ansichten.
Uns wäre es damals zum Beispiel auch nie in den Sinn gekommen, Flusskrebse für eine Delikatesse zu halten. Ihr Fleisch galt in der Bevölkerung als eine Art Snack und hatte einen Stellenwert, den hierzulande die Chips einnehmen würden. Bei uns gab es damals aber keine Chips. Dass man für das Zerlegen der Krebse eine spezielle Schere verwendet – davon haben wir auch nichts gewusst. Wir taten es mit den Händen und das sehr geschickt. Am Ende der Speisung waren unsere Fingerkuppen lädiert und taten auch ein bisschen weh. Aber für uns war es ein gutes Zeichen dafür, dass wir jede Menge Krebse verdrücken konnten.
"Die Hühner haben sich schon längst die Füße gewaschen"
Als Snacks dienten uns neben Flusskrebsen auch die Maiskolben und die Sonnenblumenkerne. Auch sie mussten wir entsprechend zubereiten und kochen beziehungsweise anrösten. Kauend ließen wir oft die Abende nach unseren Ausflügen ausklingen. Es gab immer etwas zu bereden. Am schönsten war es, wenn es zu dämmern begann. Die Gespräche gewannen an Tiefe, wir rückten näher zusammen und der ein oder andere Junge traute sich schon, die Hand um die Schulter eines Mädchens zu legen.
Wir blieben so lange beieinander, bis einem Vater oder einer Mutter der Geduldsfaden riss und er oder sie – meist aus dem Fenster – lauthals schrie "Was denkt ihr euch?! Die Hühner haben sich schon längst die Füße gewaschen!". Das ukrainische Sprichwort war ein eindeutiges Signal, dass es schon ganz spät geworden war und wir schleunigst heimgehen sollten. Wir taten es, ungern. Und immer voller Vorfreude auf unseren nächsten Sommertag.
Keine Kommentare
Um selbst einen Kommentar abgeben zu können, müssen Sie sich einloggen oder sich vorher registrieren.
0/1000 Zeichen