21. August 1970: Kulisse ersetzt den tiefen Schlaf

21.8.2020, 07:00 Uhr
21. August 1970: Kulisse ersetzt den tiefen Schlaf

© Contino

Die Nürnberger Jugendherberge verfügt über zwei unbestreitbare Vorzüge. Da ist einmal ihre einzigartige Lage auf dem Burgmassiv, die einen Ausblick über die ganze Noris gestattet; und außerdem gibt es moderne Wasch- und Duschanlagen, wie sie in den wenigsten anderen Jugendherbergen zu finden sind.

Das große Problem sind die Schlafräume, in denen im Höchstfall 300 Gäste untergebracht werden können. Zu viele Betten müssen in die Räume hineingepfercht werden, um die Aufnahmekapazität dem Ansturm in der Reisezeit von Mai bis September anzugleichen. In der stattlichen Zahl 300 sind bereits die Notquartiere enthalten, die für den Benutzer fast eine Zumutung darstellen. Sie sind überdies nur von Mädchen zu benutzen, denn wer zu ihnen gelangen will, muß das Stockwerk passieren, das den jungen Damen vorbehalten ist und zu dem kein männliches Wesen Zutritt hat. Und hier, im obersten Stockwerk der Jugendherberge, sind auch die WC-Anlagen äußerst dürftig ausgefallen.

100 Betten weniger

Im kommenden Jahr wird sich die Situation noch verschlechtern: wenn im Luginsland das geplante Gästehaus entsteht, werden fast 100 Betten für die Jugendherberge wegfallen. Wilhelm Tietz hofft, trotz dieses Mankos die Gesamtzahl der Übernachtungen – im vergangenen Jahr belief sie sich auf fast 38 000 – einigermaßen halten zu können.

Dazu wird nötig sein, daß die Herberge auch während der kalten Jahreszeit gut belegt ist. Da dann erfahrungsgemäß die Zahl der Einzelwanderer stark absinkt, hofft er vor allem auf Gruppen und Schulklassen. Doch hier taucht ein weiteres Problem auf: weil kein abgeschlossener Tagesraum zur Verfügung steht, der Voraussetzung wäre für einen Unterricht — und der ist meist Bedingung für einen mehrtägigen Aufenthalt —, ist es äußerst schwierig, Schulklassen nach Nürnberg zu bekommen.

Im Sommer freilich zielt die Sorge in die entgegengesetzte Richtung: dann drohen größere Gruppen den Einzelwanderern den Platz wegzunehmen. Und Einzelwanderer haben Vorrang. Da Wilhelm Tietz aus Erfahrung weiß, wie groß ihre Zahl in den jeweiligen Monaten etwa ist, kann er interessierten Gruppen rechtzeitig Bescheid geben, ob sie in der Nürnberger Jugendherberge Quartier finden können.

Bei den Einzelwanderern handelt es sich zu 70 Prozent um Ausländer, die aus allen fünf Kontinenten kommen. Auch der Ostblock ist vertreten – wenn auch längst nicht so stark wie während des „Prager Frühlings“. Damals stellten die Tschechoslowaken das Hauptkontingent. Im Augenblick rangieren die Italiener an erster Stelle unter den Ausländern.

Die Zeiten, da mit Recht von „Wanderern“ gesprochen werden konnte, sind endgültig vorbei. Ganz selten klopft noch jemand an der Jugendherberge an, der zu Fuß in die Noris gekommen ist. „Gut 80 Prozent meiner jugendlichen Gäste kommen per Autostop“, stellte Wilhelm Tietz fest. Der Rest trifft per Moped oder Fahrrad ein, manchmal auch im eigenen Auto. Aber dann hat er meist einige Mitfahrer dabei.

Im Urteil über die Jugendherberge scheiden sich die Geister. Die deutschen Gäste bemängeln häufig den geringen Komfort – die ausländischen pflegen die romantische Lage auf der Burg zu rühmen und den Blick über die Stadt.

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