23. Oktober 1970: Aula wurde zur politischen Arena

23.10.2020, 07:39 Uhr
23. Oktober 1970: Aula wurde zur politischen Arena

© Kammler

Das ungewohnte Ereignis hatte seine Anziehungskraft nicht verfehlt: die Aula des Sigena-Gymnasiums war überfüllt, als sich Dr. Hildegard Hamm-Brücher (FDP), Lieselotte Seibel (SPD), Dr. Sieghardt Rost (CSU) und Armin Schorler (DKP) den Oberklassen des Dürer- und des Sigena-Gymnasiums zur Diskussion stellten. Die NPD war gar nicht eingeladen worden. Ein Sprecher der Schülerschaft erläuterte, warum: diese Partei habe sich mit dem Einsatz ihrer Schlägertrupps am Egidienplatz und heuer während des 17. Juni selbst abqualifiziert. Eine einzige Stimme erhob dagegen Protest. Hauptthema waren die Bildungs- und Schulpolitik. Den Politikern wurde Gelegenheit gegeben, ihre Modelle kurz zu umreißen.

Leichtes Gelächter klang auf, als Dr. Rost erklärte, die CSU strebe unter anderem auch eine Demokratisierung der Schulen an. Ins Kreuzfeuer der Kritik durch die Schüler geriet er, als die Frage der Schülermitverwaltung angesprochen wurde: diese Verwaltung habe nichts weiter als organisatorische Aufgaben zu erfüllen, von einem Mitspracherecht sei nichts zu spüren, erklärten die Gymnasiasten. Rosts Schilderungen der Schulverhältnisse in Bayern bezeichnete Lieselotte Seibel als „euphorische Darstellung“; die bisherigen Verbesserungen seien nichts als „Flickschusterei“ gewesen. Sie forderte Vorschulbildung und eine integrierte Gesamtschule. Zur Zeit, so die SPD-Politikerin, sei es geradezu eine Zumutung an die angehenden Studenten, wenn versucht werde, ihnen den Lehrberuf schmackhaft zu machen. Zu Dr. Rosts Lob für das Telekolleg: „Das bayerische Kultusministerium hat dafür nichts getan, das ist Sache der Rundfunkanstalten.“ Dr. Hildegard Hamm-Brücher assistierte ihrer Kollegin und zitierte statistisches Material, aus dem ersichtlich wurde, daß Bayern in der Schulpolitik weit unter dem bundesdeutschen Standard liegt. Dr. Rost konterte mit anderen statistischen Daten, die das Gegenteil beweisen sollten. Die FDP-Politikerin führte ein weiteres Argument ins Treffen: „Warum hatte selbst die Jugendorganisation der CSU, die Junge Union, den Rücktritt des Kultusministers gefordert? Doch wohl nur, weil sie von seiner Unfähigkeit überzeugt gewesen ist.“

Armin Schofler schließlich meinte, von Chancengleichheit könne erst dann gesprochen werden, wenn neben der Bildungs- auch die Sozialstruktur verändert werde. Auf jeden Fall aber müßten aus den Schulen autoritäre Vorstellungen verschwinden: wirkliche Mitbestimmung sei nötig. Sie war es auch, die von den Schülern immer wieder gefordert wurde. Einige Male wurde sie sogar an Ort und Stelle praktiziert, zumeist dann, wenn Rost die CSU-Politik verteidigte: dann segelten Flugblätter von der zweistöckigen Balustrade, die den großen Saal der Aula einfaßt, und protestierendes Pfeifen ertönte. Einige Schüler betonten ihre Eigenständigkeit mit verbotenem Rauchen. Und das sanfte Schul-Spektakulum wurde ganz öffentlich auch amourös verbrämt. Denn auf dem Podest, auf dem die Rednertische standen, schnäbelten zwei ganz ungeniert.

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