Hommage an die Bergkirchweih: Wir werden dich vermissen
27.5.2020, 07:39 UhrDie Sommerluft ist schwül, der Regen gerade noch vorbei gezogen. Am Himmel sieht man einzelne Sterne durch das dunkle Blätterdach. Die gelben und roten Lampions leuchten. "Rosi" treibt alle an, die Band spielt "Skandal im Sperrbezirk". Überall blickt man in strahlende Gesichter. Arm in Arm schunkeln sie wie der Schaum der Wellen über ein unendlich-fröhliches Meer.
Für mich ist es das größte Glück. Mit Freunden oder auch mit Fremden. Das Glück ist dann zum Greifen nahe, es durchströmt mich bis in die Fingerspitzen. Wie oft träume ich davon. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich die schunkelnde Menschenmenge unter den großen Bäumen, ich spüre den Steinkrug in meiner rechten Hand. Ich höre die Musik, meistens ist es tatsächlich "Skandal im Sperrbezirk", manchmal auch "99 Luftballons".
Glück ist subjektiv, nicht jeder wird auf der Erlanger Bergkirchweih glücklich. Manche flüchten sogar aus der Stadt, um die zwölf Tage Ausnahmezustand nicht miterleben zu müssen. Viele aber finden während der Festtage ihr persönliches Glück, mit ihren Freunden, der Familie, den Kindern oder Menschen, die sie noch nie zuvor gesehen haben. Sie kommen auf die Keller und an die Schausteller-Buden, um gemeinsam glücklich zu sein.
Insbesondere jetzt, da wir nicht spontan und in großen Gruppen zusammen sein können, vermisse ich das sehr. Die Absage der Großveranstaltungen wegen der Corona-Pandemie bis Ende August bedeutet nicht nur enorme wirtschaftliche Verluste, arbeitslose Musiker und verzweifelte Schausteller. Sie nimmt uns auch das unbeschwerte Beisammensein, das gemeinsame Glück.
Aus dem Jahr 2019: Miss und Mister Berg
So ist es nicht nur in Erlangen. Ob am Annafest in Forchheim, dem Nürnberger Volksfest oder der kleinen Dorfkirchweih im Ort. 2020 wäre meine fünfte Kirchweih als Berg-Reporterin gewesen. Ich habe alle Keller erlebt und ihre Wirte, die Schausteller, Polizisten, Feuerwehr- und Rettungskräfte, die Bands und die Mitarbeiter der Stadtverwaltung. Ich habe meine liebsten Musiker, die schnellsten Schleichwege und besten Klo-Frauen. Ein guter Berg-Tag beginnt für mich um 10 Uhr, wenn die Brezenverkäufer ihre Rollläden hochziehen und aus dem Schächtners Zelt Blasmusik wummert.
Ich bin jemand, der die Menschenmassen mag, der besonders gern abends über die Keller wandert und an jeder fünften Bierbank mitschunkelt. Sogar die Heimfahrten in der überfüllten letzten S-Bahn Richtung Nürnberg gehören für mich dazu, wenn alle weiterfeiern oder schon einschlafen, während ich noch das letzte Smartphone-Video für den Nordbayern-LiveBlog schneide. Ich liebe die Vorfreude in der Stadt, den Anstich-Tag, das Pfingst-Wochenende, die riesigen Käse-Laibe, das Kreischen der Achterbahnfahrer, die Ruhe unter der Woche und die Wehmut am Abschiedsabend.
Knapp eine Million Besucher kommen jedes Jahr auf den Erlanger Berg. Die Innenstadt verändert sich in dieser Zeit, schon Tage vor dem Anstich, der traditionell an Donnerstag vor Pfingsten stattfindet, verwandeln sich Imbissbuden und Restaurants in der Hauptstraße in eine Mini-Disco, verriegeln die Geschäfte ihre Fenster, auf dem Martin-Luther-Platz entsteht eine provisorische Rettungswache. Und das Riesenrad thront bereits über den Dächern.
Es ist ein Erlanger Wahrzeichen, auch wenn es nur etwas mehr als zwei Wochen lang Teil des Stadtbilds ist. Erspähe ich die ersten Aufbauten der weißen Stahl-Konstruktion, beginnt das Kribbeln. Ist das Riesenrad der Familie Kipp da, ist der Anstich nicht mehr weit. Dann gibt es auch auf Presseterminen und Sportplätzen nur noch ein Thema: die Vorfreude auf den Berg.
Mehr zum Berg: Rückblick - als die Bergkirchweih in Gefahr war
In diesem Jahr ist alles anders. Es gab kaum Pressetermine und die Sportplätze blieben wochenlang verwaist. Das Europa-Rad liegt zerstückelt zu Hause in Bonn. Es darf wie seine Schausteller nicht auf Reisen gehen, es darf auch nicht nach Erlangen. Für manche, die mit der Bergkirchweih länger verbunden sind als ich auf der Welt bin, wird es das erste Pfingst-Wochenende ihres Lebens ohne Berg.
16 Bergkirchweihen hat es seit 1755 schon gegeben, die wegen Krisen oder Kriegen ausgefallen oder verkürzt waren. Dass wir das nun auch erleben müssen, hätte ich nicht für möglich gehalten. Ich hatte mir schon am 17. Juni 2019, am letzten Tag der vergangenen Bergkirchweih, den Termin für 2020 notiert. Genauso machen es die Wirte, Musiker und Schausteller. "Ich blocke mir das Pfingst-Wochenende seit Jahrzehnten prinzipiell", sagt Harry Neubauer von der Band "Moskitos". "Da kann kommen, wer will, ist es ein noch so lukrativer Auftritt."
Der Gitarrist und Sänger mit dem einprägsamen Lockenkopf spielt mit seiner Band seit 30 Jahren auf der Bergkirchweih. Am Abschiedsabend singt er "Lili Marleen" am Erich Keller. Das will er in diesem Jahr wieder machen, wenn auch nur per Facebook-Livestream. Ansonsten sitzt Neubauer zu Hause. Wie so viele Künstler und Schausteller.
Auch wenn sich alle einig sind, dass die Gesundheit Vorrang genießt: Sie trifft die Coronakrise besonders, und nicht nur finanziell. "Bei manchen Schaustellern geht es um die blanke Existenz", sagt Lorenz Kalb, der Vorsitzende des Süddeutschen Schausteller-Verbands. Das letzte Geld, sagen Kalb und seine Kollegen, haben sie an den Weihnachtsmärkten verdient. "So mancher kommt mit seinen Finanzen gerade noch so bis Karfreitag hin, am Ostersamstag wäre die Saison 2020 los gegangen." Die Bergkirchweih ist für die meisten der Saison-Höhepunkt.
"Finanziell ist es ein Desaster", sagt die Erlanger Schaustellerin Nadja Kunstmann. "Die Bergkirchweih ist ein Stück vom großen Ganzen. Die Feste und Kirchweihen sind unsere einzige Einnahmequelle. Das ist das, was wir machen." Schausteller sind stolze Unternehmer, sie packen immer mit an und begegnen jeder Herausforderung mit Zuversicht. Und das seit Jahrhunderten. Seit fünf Generationen ist die Familie Kunstmann auf der Bergkirchweih vertreten, bekannt für den Autoscooter am Riesenrad. Die 39-jährige Nadja Kunstmann ist dabei, seitdem sie auf der Welt ist. Auch Lorenz Kalb ist Schausteller in der fünften Generation, seine Töchter und Enkel ebenfalls auf Volksfesten aktiv.
Irgendwie, da sind sich alle sicher, kommen sie über die Runden. "Eine andere Sache ist, was unser Herz dazu sagt", meint Nadja Kunstmann. "Wenn die ersten Sonnenstrahlen vom Himmel fallen, wollen wir uns auf den Weg machen, um Menschen glücklich zu machen." Schausteller sind ein reisendes Volk. Spricht man viel mit ihnen, spürt man, wie wahr das ist. Schon als Kinder sind sie dabei, haben Fernunterricht und spielen mit ihren Freunden von den Buden nebenan auf den Volksfesten des Landes. Später haben sie in jeder Stadt einen Lieblings-Friseur oder eine Bäckerei, auf die sie sich das ganze Jahr über freuen. Ihr Beruf ist ihr Leben. Gerade ist es gar nichts.
Bleibt es das ganze Jahr so und auch das Weihnachtsmarkt-Geschäft aus, könnte es manche Schausteller-Betriebe 2021 nicht mehr geben. Das würde auch das Bild vieler Feste verändern. Und doch hat die Bergkirchweih schon fast alles überlebt, darunter zwei Weltkriege. Sie wird also auch diese Krise überstehen.
Ein wenig besser geht es den Kellerwirten. Viele haben Restaurants oder Bars. Das Schlimmste scheint hier überstanden. Die Gastronomen dürfen wieder arbeiten, von der Normalität aber sind auch sie noch weit entfernt. Am Entlas Keller, der als einziger am Berg den ganzen Sommer über geöffnet hat, gibt es seit einer Woche wieder Biergarten-Betrieb. Das Gelände ist groß, Abstandsregeln werden gut eingehalten. Dazu können sich die Gäste per QR-Code registrieren. Dann dürfen sie eine kühle Maß Bergbier frisch vom Fass unter dem grünen Blätterdach genießen.
Die Erlanger Brauerei Steinbach verkaufte bereits vor ein paar Wochen Bergbier in Flaschen zum Mitnehmen. Innerhalb weniger Stunden war es ausverkauft, so sehr verzehren sich die Erlanger danach. Mittlerweile hat auch der Steinbach Biergarten wenige Hundert Meter vom Kirchweih-Gelände entfernt wieder geöffnet. Braumeister Christoph Gewalt wird an Pfingsten also trotz Kirchweih-Absage arbeiten. Wenn auch nicht auf dem Keller. Das ist besser als nichts, doch ersetzen kann das die zwölf Festtage nicht.
Das Gefühl, das "oben" immer mitschwingt, fehlt. Oben auf dem Berg. Gerade am ruhigen Steinbach Keller treffen sich Stammtisch-Freunde seit Jahrzehnten, ehemalige Arbeitskollegen, langjährige Bekannte. Manche Menschen sehen sich nur einmal im Jahr, einmal auf der Bergkirchweih. Ehemalige Erlanger Studenten, die inzwischen auf der ganzen Welt verstreut sind, kommen an Pfingsten zurück in ihre Uni-Stadt.
Auf der Bergkirchweih habe ich wunderbare Menschen kennengelernt, ich sehe sie jedes Jahr wieder, an jedem der zwölf Berg-Tage unterhalten wir uns. Und dann erst wieder im nächsten Jahr. Ich stand mit ihnen am Hähnchengrill oder habe Toilettenschüsseln geputzt, als ich für eine Selbstversuch-Serie mitgearbeitet habe. Einmal habe ich 24 Stunden auf der Bergkirchweih-Gelände verbracht, um zu sehen, wer nachts das Bier liefert oder die Keller reinigt. Auch wenn ich, 29 Jahre alt, noch keine Jahrzehnte oben erlebt habe, fühle ich mich mit dem Berg und seinen Menschen in jeder Faser verbunden.
Deshalb fühlt es sich schon jetzt an als wäre es der letzte Abend. Wehmütig blicke ich aufs nächste Jahr, notiere mir den Anstich-Tag, den 20. Mai 2021, im Kalender und summe leise vor mich hin:
So wollen wir uns da wiedersehen.
Bei der Laterne wollen wir stehen.
Wie einst Lili Marleen.
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