Berufungsverhandlung in Nürnberg
Erste Zeugenaussagen vor Gericht: Darf der Drachenlord auf Milde hoffen?
23.3.2022, 16:08 Uhr"Ich habe natürlich Verständnis dafür, dass Ihre Anschrift in dieser öffentlichen Verhandlung nicht genannt wird", sagt Axel Dunavs - und in dieser Einleitung des Vorsitzenden Richters der Berufungskammer steckt das Kernproblem dieses Strafverfahrens: Seit Videoblogger Rainer W. (32) im Jahr 2014 im Netz seine Adresse im Dorf Altschauerberg im Landkreis Neustadt a. d. Aisch nannte und seine "Hater" dazu aufforderte, zu ihm zu kommen, taten sie dies auch - und seither ist das 42-Seelen-Dorf Altschauerberg zum Spielfeld des "Drachengame" geworden.
Quer durch die Republik reisen Fans und Anti-Fans an, abhängig vom Blickwinkel wird dies als "Party" oder "Mobbing-Wallfahrt" erlebt. Lautete die erste Idee "Den Drachen das Fürchten lehren!", ist das nächste Motto einiger Anti-Fans: "Den Drachen in den Knast bringen".
Es sei eine "große Gaudi" zur Drachenschanze zu pilgern, dort könne man gut feiern, schildert ein junger Mann, Anfang 20, im Gerichtssaal. Er beschreibt, wie er und sein Kumpel im September 2019 aus Schwandorf anreisten, ursprünglich, um einen Kumpel in Neustadt a. d. Aisch zu treffen. Dann ging es zu "Herrn Rainers" Anwesen und an dessen Zaun traf man erstmals aufeinander.
"Schlag mich doch"
Der Zeuge lacht ein wenig, erklärt, er sei "besoffen" gewesen, gibt zu, dass er "Herrn Rainer" geärgert und gepiesackt habe. "Schlag mich doch, schlag mich doch", rief er, bis ihm W. eine Taschenlampe gegen die Stirn drosch. Über das blutende Horn am Kopf feixte der ungebetene Besucher. "Das zeigen wir an, du Depp!" ist in einem Video festgehalten. Denn all diese Szenen hielt ein Freund von ihm mit dem Handy fest, später wurde dieser Film sogleich der Polizei präsentiert. Ein Schritt auf dem Weg, den Drachen in den Knast zu bringen?
Diesmal ist der junge Schwandorfer nicht nach Neustadt a. d. Aisch gefahren, sondern nach Nürnberg, zum Strafjustizzentrum. Und offenbar ist für ihn auch seine Zeugenaussage vor Gericht eine Art Spielzug im "Drachengame". Er schwatzt und schwafelt so lange herum, bis er von W.s Verteidiger gefragt wird, ob er auch heute betrunken sei. Das Frühstück, so ist zu hören, bestand aus zwei Bier und einem Schnitzelsandwich.
"Wollen Sie diesen Vorfall weiter verfolgen? Im Ernst? Auf Basis dieser Aussage?" Die Frage von Richter Axel Dunavs an die Staatsanwältin lässt dessen Zweifel erkennen - auch aufgrund dieser Körperverletzung wurde Rainer W. in erster Instanz verurteilt.
W. ist schon länger im Visier der Justiz. Im Amtsgericht Neustadt a. d. Aisch fanden bereits mehrere Prozesse gegen ihn statt, er ist mehrfach vorbestraft und steht unter laufender Bewährung. Auch mehrere der Hater wurden wegen Hausfriedensbruch und Beleidigung bereits verurteilt, gleichzeitig führt die Staatsanwaltschaft aktuell mindestens 152 Verfahren gegen Hater. Aus strafrechtlicher Sicht gibt es viele, die gleichzeitig Opfer und Täter sind.
Der Fall um den Drachenlord ist wie ein Spiel zwischen Gut und Böse - und jede der beiden Seiten wähnt sich auf der richtigen Seite. Die Hater haben ihre eigene Moral, nicht alle hetzen, nicht alle reisen nach Altschauerberg und quälen den Lord. Doch der Zuspruch im Netz erhöht W.s Einkommen und dessen Bedeutung, und das Phänomen W. und dessen Popularität provoziert die Hater erst recht. Ihm sei sein Verhalten heute peinlich, schildert ein weiterer Hater vor Gericht, im bürgerlichen Leben ist er als Krankenpfleger in Landshut tätig. Auch er kletterte betrunken über den Zaun der Drachenschanze, und kassierte eine Geldstrafe wegen Hausfriedensbruch.
Rainer W. hat ihm ins Gesicht geschlagen und in den Schwitzkasten genommen, medizinisch versorgen ließ sich der Krankenpfleger nicht. "Meine Kollegen haben schon genug zu tun", sagt er. Den Mantel der Fürsorge hält er auch für Rainer W. bereit - aus seiner Sicht sei es sinnvoll, wenn Rainer W. hinter Gitter käme, dort könne er eine "normale Ausbildung" machen, seine einfältigen Provokationen im Netz hätten ein Ende.
W., so sieht es sein Rechtsanwalt, mache nichts anderes, als sein Hausrecht "übertrieben" zu verteidigen. Man müsse "Aktion und Reaktion" sehen. Es treffe zu, dass W. einen Stein in Richtung seiner Anti-Fans geworfen habe, doch vorher sei dieser Stein in W.s Grundstück geflogen. Immer wieder werde W. solange provoziert, bis er selbst endlich zuschlägt. Und ja, W. habe die Beamten der Polizeiinspektion Neustadt a d. Aisch via Live-Stream nach Strich und Faden beleidigt, dafür habe er sich mittlerweile entschuldigt. Die Schimpftiraden sind nicht nur unterste Schublade ("Wichser, fette Ärsche, faule Bullen, die endlich arbeiten sollen") sondern W. posaunte sie auch via Livestream in die virtuelle Welt hinaus.
Gefilmte Provokationen
Die Berufungskammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth hört Zeuge um Zeuge. Auch Videos, die W.s Tätlichkeiten gegen die Hater zeigen, werden vorgeführt. Die Bilder gleichen sich immer wieder: Während ein junger Mann um den Zaun von W.s Anwesens klettert, oder W. direkt am Zaun provoziert, filmt ein anderer das Geschehen.
Ist es nachvollziehbar, dass Rainer W. erst durch diese ständigen Quälereien ausgetickt ist? Wer hält schon besonnen stand, wenn er beleidigt wird? W. gibt seine Attacken zu, in früheren Strafprozessen hat er sie "Notwehr" genannt.
Nicht juristisch könnte man auch von einer Ausnahmesituation sprechen. In zweiter Instanz hat das Gericht erstmals ein psychiatrisches Gutachten eingeholt, Michael Wörthmüller hat mit W. über dessen gesprochen und auch dessen psychischen Zustand beurteilt. Derartige Gutachten werden grundsätzlich öffentlich erörtert - doch hier ist die Gefahr groß, dass im Netz jedes Detail veröffentlicht wird. Die Strafkammer schließt die Öffentlichkeit aus.
Gut möglich, dass der Psychiater zu dem Schluss kommt, dass Rainer W. zum Tatzeitpunkt nur eingeschränkt schuldfähig war und die Richter infolge des Gutachtens zu einem milderen Urteil, vielleicht auch mit Strafaussetzung zu Bewährung, gelangen.
An diesem Nachmittag ist bislang nur einer festgenommen worden - ein Hater, der auch als Zeuge aussagen musste, feierte vor dem Gerichtsgebäude weiter, einem Platzverweis von Polizeibeamten wollte er nicht folgen, wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte wurde er mit 1,76 Promille festgenommen. Er hatte die Polizisten angebrüllt und einem Beamten gegen das Schienbein getreten.
Seit der letzten Verhandlung im Herbst 2021 wird aufgrund von acht neuen Strafanzeigen gegen Rainer W. ermittelt, berichtet ein Polizist im Zeugenstand - erneut geht es um den Vorwurf der Körperverletzung. Aus der Sicht des Ermittlers schenken sich der Drachenlord und die Hater gegenseitig nichts. Jeder von ihnen fühle sich im Recht.
Der Artikel wurde zuletzt um 16.08 Uhr aktualisiert.