Fall Peggy: Ein Paukenschlag zum Auftakt

10.4.2014, 19:44 Uhr
Hofft auf einen Freispruch: Ulvi Kulac.

© dpa Hofft auf einen Freispruch: Ulvi Kulac.

Der Ulvi Kulac ist es gewesen, kein Zweifel. Im Urteil aus dem Jahr 2004, das Michael Eckstein, Vorsitzender Richter am Landgericht Bayreuth, zitiert, steht’s. Geglaubt, dass das Urteil richtig ist, haben viele trotzdem nicht. Auch nicht, als der Bundesgerichtshof die Höchststrafe für Kulac als rechtsfehlerfrei bestätigte.

Tatsächlich hob im April 2013 Strafverteidiger Michael Euler die Welt der Justiz aus den Angeln: Er reichte 2000 Seiten Wiederaufnahmeantrag ein, im November 2013 befürwortete die Staatsanwaltschaft Bayreuth die Wiederaufnahme. Und im Dezember ordnete das Landgericht Bayreuth an, dass der Fall neu aufgerollt wird.

Nun tritt Ulvi Kulac, zehn Jahre nachdem ihn das Landgericht Hof für schuldig befand, erneut vor die Richter. Doch diesmal lächelt er. Im Blitzlichtgewitter der zahlreichen Fotografen, im hellen Kameralicht der TV-Sender wirkt er zuversichtlich.

Applaus für Ulvi Kulac

Schärfer könnte der Kontrast kaum sein: Als der schwerfällig wirkende Mann im ersten Verfahren schuldig gesprochen wurde, fand es die Bild-Zeitung angemessen, ihn als „Schwein“ zu titulieren. Nun, da fast jeder das damals verkündete Urteil für Unrecht hält, erntet Ulvi Kulac beim Gang in den Gerichtssaal Applaus. Er bekommt eine zweite Chance.

Dazu wäre es nicht gekommen, hätte er nicht Fürsprecher wie seine Betreuerin Gudrun Rödel. Neben seinen Anwälten nimmt auch die gelernte Rechtsanwaltsangestellte an Kulac’ Seite Platz - sie war die Erste, die sich durch rund 14000 Aktenseiten kämpfte, in einem an „Komplexität kaum zu übertreffenden Fall“, wie Anwalt Euler feststellt.

Wie es das Wiederaufnahmeverfahren vorsieht - es geht hier ausschließlich darum, die Vorwürfe gegen Ulvi Kulac erneut zu prüfen, nicht um neue Verdächtige zu überführen -, verliest Staatsanwalt Daniel Götz die gleiche Anklageschrift wie beim ersten Prozess vor zehn Jahren. In einem Nebensatz betont er das Datum, an dem diese Anklageschrift erstellt wurde. Man kann dies als dezenten Hinweis auf die neuen Erkenntnisse der Ermittler deuten, auf die Verdächtigen, die mittlerweile im Visier der Staatsanwaltschaft sind.

Seit 7. Mai 2001 ist die Schülerin Peggy aus dem oberfränkischen Lichtenberg spurlos verschwunden. Kulac, so die Anklage, habe sie getötet. Sein angebliches Motiv: Er wollte vertuschen, dass er Peggy vorher vergewaltigt hatte. Kulac bestreitet all dies und Verteidiger Michael Euler ergreift das Wort. Er spricht eine gute Stunde. Als er fertig ist, hält ihm Staatsanwältin Sandra Staade leicht säuerlich vor, er habe gleich zu Prozessbeginn sein Plädoyer vorweggenommen - die von ihm erhobenen Foltervorwürfe weist sie zurück.

Eulers Rede gleicht einem Paukenschlag: Bislang war öffentlich bekannt gewesen, dass Kulac bei der Polizei ein einziges Geständnis abgelegt hatte. Ein einziges Geständnis, das er später mehrfach widerrief. Nun ist zu hören, dass Ulvi, der in Lichtenberg als „Dorfdepp“ (Euler) galt und, gehänselt von Kindern, seine Hosen runterließ, in den Vernehmungen insgesamt vier völlig widersprüchliche Geständnisse abgelegt hat.

In die Enge getrieben?

Kulac, der vor zehn Jahren geistig nicht einmal in der Lage war, die Uhr zu lesen, änderte die Tatorte und die Orte, an denen er Peggys Leichnam abgelegt haben wollte. Ja, er variierte sogar seine angeblichen Komplizen. Erst nannte er zwei Bekannte. Als sich deren Unschuld herausstellte, folgte er angeblich der Anregung eines Polizisten und beschuldigte „Vati“ als Helfer. Einer der Ermittler soll Kulac bedrängt haben: Er wäre nicht mehr sein Freund, würde er nicht bald mit der „Wahrheit“ herausrücken. Ein anderer bohrte Kulac angeblich den Daumen in den Rücken, auch sei während der dubiosen Vernehmungen immer wieder geschrien worden.

Kulac, der „auf der Entwicklungsstufe eines Zehnjährigen“ (Euler) war, wusste offenbar nicht mehr weiter. Als ihm angeblich noch Schokolade und Pizza versprochen wurden, gab er zu, was die Ermittler hören wollten. Vielleicht hatte er ja gehofft, dass die Polizisten merken würden, dass er statt der „richtigen Wahrheit“ nur die „falsche Wahrheit“, wie er es selbst formuliert, gesagt hatte.

Doch für Ulvi wurde es immer enger: Peter H., ein Mann, der mit ihm in der Psychiatrie saß, bot damals der Polizei seine Spitzeldienste an - und hoffte im Gegenzug auf seine Freiheit. Die Ermittler ließen sich auf Gespräche mit Peter H. ein und H. behauptete, Ulvi habe ihm den Mord an Peggy gebeichtet.

Im Oktober 2010 legte er vor einem Ermittlungsrichter eine Kehrtwende hin. Der todkranke H., mittlerweile ist er verstorben, gab zu, dass seine damalige Aussage frei erfunden war. Seine Falschaussage habe den 55-jährigen H. später sehr belastet, berichtete der damalige Ermittlungsrichter im Zeugenstand. Weil ihm sein Rechtsbeistand angeblich riet stillzuhalten, bis die Falschaussage verjährt sei, machte er erst spät reinen Tisch.

Mittlerweile ist das Bezirkskrankenhaus Bayreuth für Ulvi Kulac zur Heimat geworden. Bis heute schraubt er dort Kugelschreiber zusammen. Im Fall eines Freispruchs will er in eine Wohngruppe ziehen.

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