Das sind die positiven Seiten der Pflege-Branche
12.1.2020, 09:04 UhrEs ist ein düsteres Bild eines Altenheimes, gezeichnet von Gertrud, einer Bewohnerin Mitte 70, die lieber unerkannt bleiben will. Sie hat in einem Artikel der NN im Sommer das System Pflege angeklagt und beklagt, unter welchen Bedingungen sie ihr Leben im Heim führen müsse: Volle Windeln, die nicht getauscht würden. Pfleger, die überfordert seien, sie barsch angehen oder sich auf ihr Bett setzen und dem Druck, dem sie im Arbeitsalltag ausgesetzt sind, mit Tränen freien Lauf lassen. Gertrud, diesen Namen haben wir der Bewohnerin eines Heimes im Landkreis Forchheim damals gegeben, um ihrem Wunsch, unerkannt zu bleiben, nachzukommen. Mit ihrer persönlichen Geschichte hat sie ein großes Echo hervorgerufen. Es kam aus vielen Ecken. Es meldeten sich Leser, die von ähnlichen Erlebnissen sprachen und solche, die sich schützend vor engagierte Pflegekräfte stellten.
Eine von ihnen ist Alexandra Dauer, Leiterin für die Seniorenzentren in Streitberg und Ebermannstadt sowie für das Demenzzentrum in Unterleinleiter. „Wir brauchen Mitarbeiter“, sagt Dauer, die gemeinsam mit ihrem Team der Diakonie Bamberg-Forchheim als Träger der drei Einrichtungen zum Pressegespräch eingeladen hat. Dass gerade die Pflegebranche unter einem akuten Fachkräftemangel leidet, ist bekannt. „Wir gewinnen nur dann Mitarbeiter, wenn es von der Pflege auch ein positives Bild in der Öffentlichkeit gibt“, sagt Dauer. Wie stark der Mangel an Fachkräften ist, zeigt sich auch an der Altenpflegeschule Dr. Wiesent in Eggolsheim. Die Schule wirbt um Pflegerinnen und Pfleger aus allen Herren Länder, um der Nachfrage in den Einrichtungen nachzukommen. Zuletzt starteten Schüler aus China dort in ihre Ausbildung.
Teil einer bitteren Wahrheit
Doch zunächst einen Schritt zurück zu den Bedingungen, die Gertrud ihren Schilderungen nach in einem Heim erlebt. Bleiben Bewohner tatsächlich in ihren benutzten Windeln sitzen? Als die Redaktion in einem ausführlichen, ebenfalls anonymen Gespräch den zuständigen Heimleiter mit diesen und weiteren Vorwürfen konfrontiert hat, sprach er davon, dass bei vielen Bewohnern schon ein Tropfen Urin reiche, um die Windel wechseln zu wollen.
Dem stimmt auch Matthias Bretfeld zu. Er ist Referent für Altenhilfe beim Diakonischen Werk Bamberg-Forchheim. Bretfeld spricht von einer „bitteren Wahrheit“. „Den Krankenkassen und nicht den Pflegern ist es geschuldet, dass die Windel bei einem Tropfen Urin nicht gewechselt werden kann.“ Rund 33 Euro im Monat stünden pro Bewohner für Inkontinenzmaterial zur Verfügung. Eine Pauschale, die erst vor fünf Jahren gekürzt worden sei. Bretfeld schreibt den Krankenkassen und in letzter Instanz der Politik die Verantwortung zu, doch die Folgen würden den Einrichtungen angelastet.
Gleichwohl gibt Bretfeld zu bedenken, dass das Material „eine gewisse Saugfähigkeit hat“ und mancher Bewohner auch nur das täuschende Gefühl habe, dass die Windel voll sei. Anders kann sich Bretfeld den von Gertrud geschilderten Fall nicht vorstellen. „Sonst wäre es längst zu einer Entzündung gekommen.“
Auch Paul Schlund, er ist Leiter des Caritas-Pflegezentrums St. Elisabeth in Forchheim, kann sich nicht vorstellen, dass sich die Szenarien derart abspielen. „Das kann niemals der Alltag sein, sonst würden die Verantwortlichen nicht mehr dort sitzen.“ Und Pfleger, die stille Tränen auf dem Bett von Bewohnern weinen, weil ihr Job belastend ist? Das kann wiederum Elke Philipp nicht nachvollziehen. Sie ist beim Seniorenzentrum als Pflegedienstleitung auch für das Personal verantwortlich. In der Branche habe sich die Mitarbeiterführung zu einem Schwerpunkt entwickelt, sagt sie. Weil die Einrichtungen um jeden einzelnen Arbeitnehmer kämpfen müssen.
„Wir berücksichtigen die Bedürfnisse des Personals, beispielsweise wem welche Schicht besser liegt.“ Wolle eine Mutter ihren Sohn zur Schule bringen, bevor sie zur Arbeit ins Heim fährt, „dann machen wir das möglich“, sagt Philipp. „Damit niemand von unseren Mitarbeitern weinend auf dem Bett sitzt.“
Auch wenn Einrichtungen wie diese ein Ohr für die Bedürfnisse ihrer Angestellten haben, die Arbeit bleibt keine einfache. Das sagt auch die 28-jährige Nadine Konrad, die gerade in einem Stationszimmer der Streitberger Einrichtung Patientenakten mit ihrer Kollegin Sonja Görl durchgeht, als wir von Alexandra Dauer durch das Heim geführt werden. Vollzeit, 40 Stunden arbeiten? „Da ist das Abschalten ein Problem. Es ist grenzwertig“, sagt die junge Pflegerin aus Elbersberg. Das sei kaum zu schaffen. Sie arbeitet 35 Stunden in der Woche.
Psychische Erkrankungen
Deutschlandweit ist es die Berufsgruppe der Pflegerinnen und Pfleger, die am häufigsten wegen psychischer Belastungen krankgeschrieben ist. Stress und Druck im eng getakteten Arbeitsleben fordern ihren Tribut. Im Verbund der drei Einrichtungen der Diakonie sind 180 Mitarbeiter beschäftigt. Die überwiegende Anzahl der Angestellten ist auf 30 Stunden und damit in Teilzeit angestellt. „Gerade am Morgen haben die Mitarbeiter Zeitdruck, damit alle Bewohner in einem gewissen Zeitrahmen am Frühstückstisch sitzen“, sagt Personalverantwortliche Philipp. Um sechs bis sieben Bewohner kümmert sich Altenpflegerin Konrad am Morgen.
Trotz eines vermeintlich negativen Bildes von der Branche hat sich die 45-jährige Waischenfelderin Sonja Görl vor drei Jahren für ein neues Arbeitsleben entschieden und startete mit der dreijährigen Ausbildung als Altenpflegerin. Sie ist eine „Spätberufene“, wie sie sagt, war vorher als Einzelhandelskauffrau tätig. Das hat sie nicht erfüllt. Ein Probearbeiten im Heim war die Initialzündung.
"Man weiß gar nicht, wie schön dieser Beruf ist"
„Vom ersten Tag an war mir klar, was von den Bewohnern an Dankbarkeit zurückkommt“, sagt sie. In ihrem bisherigen Job waren positive Rückmeldungen Mangelware. „Jugendliche müssten in die Heime hineinschnuppern, damit sie sehen, wie es wirklich ist“, sagt Görl. „Meist hört man ja nur Negatives in den Medien und man weiß gar nicht, wie schön dieser Beruf ist.“
Sätze wie dieser sind die beste Werbung für neue Fachkräfte. Und die beste Werbung für einen Arbeitgeber ist die von Mund zu Mund, sagt auch Einrichtungsleiterin Dauer. Zufriedene Angestellte seien das A und O. Denn längst gehe es nicht mehr nur darum, die Freizeitangebote in den Einrichtungen für die Bewohner auszuweiten. Halten, was da ist, heißt es. Für Zusätzliches fehlt es an Personal.
Längst ist es die Einrichtung, die sich bei potenziellen Mitarbeitern bewirbt und nicht anders herum. „Die Anzahl der Bewerbungen geht massiv zurück“, sagt Dauer. Sechs Monate dauere es im Schnitt, bis eine Stelle nachbesetzt werden könne. „Gleichzeitig gehen langjährige Mitarbeiter in den nächsten Jahren in Rente.“ Das macht die Situation nicht einfacher. Und sie wird noch komplizierter. Hinzu kämen Ausfälle bei den Angestellten, so Philipp. „Krebserkrankungen nehmen zu oder Mitarbeiter fallen kurzfristig aus.“ Gründe, die Philipp anführt: Depressionen oder Burn-Out.
Für Matthias Bretfeld stehen Pflegeeinrichtungen auf dem Spiel, wenn sich der Fachkräftemangel weiter verschärft. In seinem Szenario könnten deutschlandweit Wohnbereichsschließungen drohen, meint er. „Plätze bleiben dann leer, Leute, die einen Pflegeplatz brauchen, finden keinen.“ Er stellt sich deshalb hinter die Forderung der Verbände nach zehn Prozent mehr Gehalt, für Vollzeit bei 35 Stunden. Weil das alles Geld kostet, müsste der Pflegeversicherungsbeitrag erhöht werden. „Das wissen die Politiker auch, sagen es aber nicht ehrlich“, sagt Bretfeld.
Die jüngsten Signale aus der Bundespolitik fassen die Verantwortlichen in Streitberg positiv auf. Es soll mehr Stellen und mehr Unterstützung geben.
„Doch noch ist der Wasserkopf groß“, sagt Bretfeld. Die Bürokratie erschwere die Arbeit. Hilfsmittel, die das Arbeiten für die Pfleger leichter machen, lehnten Krankenkassen immer wieder ab. „Also investieren wir selbst. Das müssen wir aber auch finanzieren können“, sagt Bretfeld. Dass es Heime mit veralteter Technik gibt, sei eine logische Folge. „Wir kämpfen um jeden Euro.“
Für Paul Schlund muss sich nicht nur die Politik, sondern auch die Gesellschaft ändern. „Frauen müssen eine Kinderbetreuung finden, auch am Wochenende oder in den Ferien, damit sie arbeiten gehen können.“ In Streitberg überlegt Alexandra Dauer, wie sie beim Ferienprogramm mit der Gemeinde zusammenarbeiten kann, damit ihre Mitarbeiter davon profitieren können.
Ein Herzenswunsch bleibt
Am Ende ist das Menschliche an das Finanzielle gekoppelt. „In Pflegeheimen kann kein Angehörigenersatz stattfinden“, sagt Bretfeld. Das Gesetz schreibe eine zweckmäßige und wirtschaftliche Pflege vor. „Das ist traurig, sind aber die Rahmenbedingungen, die die Politik setzt.“ Elke Philipp hat dennoch den Anspruch, „dass ein nettes Gespräch mit den Bewohnern möglich ist“. Sie sagt: „Der Kontakt zu den Bewohnern spielt eine große Rolle.“
Und manch neuer Bewohner braucht schlicht Zeit, sich an einen neuen Lebensabschnitt zu gewöhnen. In Streitberg hat das die 80-jährige Gerda Rompza längst getan. Seit einem Jahr lebt sie mit Blick auf die Hügel und Täler der Fränkischen Schweiz nach einem Schlaganfall in der Einrichtung. Zusammen mit anderen Bewohnern nimmt sie am Gymnastikangebot teil, besucht den Gottesdienst oder werkelt in der Gartengruppe mit. Das Personal sei „sehr zuvorkommend“, das Essen gut. Der Speiseraum ist einer von vielen, der hell und freundlich daher kommt. Die Sonne strahlt durch die vielen Fenster ins Innere, die Stimmung unter den Bewohnern ist gut. Von den Pflegern wünscht sich Gerda Rompza „ein bisschen mehr Zeit“. Sie sagt: „Das wäre schön.“
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