Kindheit und Jugend in Forchheim: Die so nahe und so ferne Altstadt

30.11.2020, 10:29 Uhr
Als Bundesstraße 4 war die Forchheimer Hauptstraße die zentrale Einkaufsachse der Stadt und zugleich die einzige Durchfahrt für den Fernverkehr. Heute ist hier Fußgängerzone. 

© Foto: Stadtarchiv Forchheim Als Bundesstraße 4 war die Forchheimer Hauptstraße die zentrale Einkaufsachse der Stadt und zugleich die einzige Durchfahrt für den Fernverkehr. Heute ist hier Fußgängerzone. 

Das versprach einen Ausflug bis mindestens in die Hauptstraße und Abwechslung, mit guter Chance auf eine Tasse Kakao, eine Salzstange oder ein Eis für mich. Los ging’s entlang der Bamberger Straße stadteinwärts, vorbei am Bäcker Landsmann, an der Esso-Tankstelle, über die Brücke vom alten Kanal. Ich umkreiste den Schaukasten vor dem Capitol-Kino mindestens einmal, wenn ein Disney-Film angekündigt wurde, und bekam am Stadtpark einen kleinen Schlenker zum Kinderspielplatz an der Wiesent genehmigt. Von dort waren es nur einige Schritte zum Laden von Frau Wiemann, die mich stets mit einem „Na, der Doomas!“ (mit betontem, langem „o“) begrüßte. Wir schauten auch ohne Einkauf bei ihr rein, denn sie kannte mich seit meinen frühesten Kinderwagentagen – vor Forchheim-Nord hatte die Kleinfamilie Walther in der Von-Brun-Straße gewohnt.

Seltsame Ausdünstungen

Am Rathausplatz blieb ich gerne beim Radio-Mose stehen, solange der noch Spielzeugeisenbahnen und Zubehör in der Auslage zu bestaunen hatte. Danach standen Besorgungen des nicht täglichen Bedarfs an, etwas Langlebiges, Praktisches oder Spezielles. Die Hauptstraße war Forchheims Einkaufs-Viertelmeile – vom modischen Arendt bis zum Elektro-Zinke – und zugleich als Bundesstraße 4 noch lange Zeit die einzige Durchfahrt für den Fern- und Schwerlastverkehr. Ehe Mutter Gardinen auswählte oder sich Lochknöpfe, Kochtöpfe oder Handschuhe zeigen ließ, steckte sie mir vorsorglich nicht langlebige Toffees von Kaiser’s Kaffee zu. Die fand sie praktisch, weil ich mit vollem Mund nur halbherzig zum Weitergehen drängelte.

Das neue Forchheim-Nord ganz am Anfang. Hier ist die zukünftige Kantstraße mit dem Weingartssteig zu sehen - und in der Mitte ein Borgward-Lkw bei der Arbeit. 

Das neue Forchheim-Nord ganz am Anfang. Hier ist die zukünftige Kantstraße mit dem Weingartssteig zu sehen - und in der Mitte ein Borgward-Lkw bei der Arbeit.  © Foto: Stadtarchiv Forchheim

Speziell in der Parfümerie Ferstl nahm sie sich gerne etwas mehr Zeit. Ich schaute mich derweil in der Apothekenstraße um. Das war die Altstadt damals: In den Gassen immer feuchtes Kopfsteinpflaster, Salpetergemäuer, kleine Fenster, bröckelnder Putz, stumpfe verwaschene Farben, seltsame Ausdünstungen. Die Enge nahm hier viel Platz ein. Ich gebe zu: Als Knirps habe ich nicht nur einmal mit der Stadtmitte gefremdelt. Als Mutter Bettfedern reinigen ließ, ich glaube im Krottental, blieb mir diese Umgebung noch jahrelang als Ort der Verwirrung und Düsternis in Erinnerung. Die Reinigungsanlage mit ihrem laut heulenden Gebläse verstörte mich, mit wenig Himmel über und keinem einzigen Grashalm unter mir empfand ich nur ein „Weg von hier!“

Ähnliche Gefühle entwickelte ich in der Praxis von Frau Doktor Gückel am Marktplatzeck. Noch heute habe ich das finstere Treppenhaus vor Augen, die Märchenfiguren-Tapete vom Wartezimmer, den Sekretär im Sprechzimmer, vollgestellt mit Holzfiguren. Spätestens in der Hornschuchallee und schon auf dem Weg nachhause beruhigte ich mich wieder. Unser letzter Stopp war oft beim Zeitschriften-Glässner (eine „Constanze“ für Mutter) und Obst-Mirsberger – Herr Mirsberger, nur echt mit dem Stift hinterm Ohr.

Mit der Bahn durch den Tunnel

Gleich daneben hatte ich wie einige andere Forchheimer mein erstes und einziges Hollywood-Erlebnis, als Zuschauer bei den Dreharbeiten zu „Stadt ohne Mitleid“. Nördlich der Holzstraße blieb die Allee abgesperrt, in der Straßenmitte stand das Interieur der Florida-Bar aufgebaut. Ich staunte vornehmlich über die riesigen Scheinwerfer, die unter hellem Tageslicht die Szene ausleuchteten. Ich war wohl zu jung, um von diesem historischen Ereignis richtig beeindruckt zu sein. Einmal im Jahr wünschte ich mir ausdrücklich einen Besuch im Zentrum: Um Ostern herum, zum Frühlingsfest am Paradeplatz, da fuhr eine prächtige – keine Miniatur-Ausgabe – Kindereisenbahn über einen Schienenkreis und durch einen Tunnel. Inklusive solcher unterhaltsamer Momente hielt sich die Anziehungskraft des alten fränkischen Kerns in Grenzen.

Ich hatte meinen Kinderalltag in vertrauter Nachbarschaft und wollte nicht oder durfte mich nicht alleine allzu weit von zu Hause entfernen. Wir alle in der gemeinnützigen Siedlung gehörten zu Forchheim, doch hatten einfach (noch) keine nachhaltigen persönlichen Verbindungen zu und keine gemeinsamen Erinnerungen mit den einheimischen Einwohnern. Unsere jüngste Familienchronik las sich als eine der vielen Flüchtlingsgeschichten: „Bei Hof nachts über die Grenze gemacht.“ Auch die außerhalb des Nordviertels ansässigen und weitgehend nichteinheimischen Bekannten von uns wohnten allesamt in der Peripherie, zumeist östlich der Bahngleise, locker verteilt zwischen Karl-Bröger- und Katzenstein-Straße.

Dieser Abstand zum Stadtkern spiegelte sich auch in den privaten Begegnungen und Unternehmungen unserer Familie und des Bekanntenkreises wider: Man kehrte auf den Kellern ein, meist beim Winterbauer, die Kegelbrüder nahmen meinen Vater mit nach Strullendorf, zum Mittagessen in einer Gastwirtschaft fuhren wir nach Ebermannstadt, zum Einkaufen mit größerer Auswahl nach Erlangen oder Nürnberg. Letztere Ausflüge hatten in der noch autolosen Familie allerdings Seltenheitswert.

Wenn Vater und Mutter doch einmal sonntagnachmittags mit mir durch die Stadt spazierten, hatten wir alle Kaffee/Kakao und Torte im Sinn und strebten zum Café Schmitt, zum Café Lieb oder zum Parkcafé. Vater nahm mich an ein oder zwei Wochenenden im Jahr mit zum Jahn-Sportplatz, um beim Faustball oder Fußball zuzuschauen. Mein Leben mit der und meistens ohne Innenstadt tröpfelte so Jahre dahin, bis sich ab etwa Mitte der 60er Jahre bei mir ein ganz neues Forchheim-Gefühl einstellte. Hinaus aus dem Nordviertel und hinein in die Teenagerjahre und dabei in die mittigste Mitte von Forchheim! Zu verdanken hatte ich das meinem Fahrrad und der simplen Tatsache, dass viele gleichaltrige Mitschüler am Gymnasium aus Familien der Altstadt stammten.

Neue Freundschaften formten sich, und hielten. Auf einmal ging ich in mitunter recht noblen Forchheimer Bürgerhäusern ein und aus. In denen trafen wir uns nach der Schule, oder in der Eis-Venezia, der Fränkischen Bierstube, im Bräustübl, spielten Karten in der Krone oder im Schindler, hatten Klassenpartys im Keller vom Eichhorn. Ich besserte mein Taschengeld durch Ferienarbeit auf, in der Stadtgärtnerei, beim Möbel-Hoch, bei der OFRA. Ich fuhr Zeitschriften in ganz Forchheim aus, kam dabei in verwinkeltste Sackgassen und versteckte Höfe. Lernte Forchheim richtig kennen, dabei in meiner Freizeit auch das zugehörige lokale Angebot (?) für Jugendliche. Doch das ist eine andere Geschichte.