Freie Wähler: "Müssen uns von starrer Fokussierung auf den Inzidenzwert lösen"

Ralf Müller

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2.3.2021, 13:10 Uhr
Freie Wähler:

© Stefan Obermeier | Bildarchiv Bayerischer Landtag

NZ: Herr Dr. Mehring, ist Ihr Positionspapier als Versuch zu werten, Ministerpräsident Söder vor der Ministerpräsidentenkonferenz noch ein wenig auf ihren Kurs festzunageln?

Fabian Mehring: Es ist in erster Linie ein Vorschlag, ein Diskussionsanreiz an die Adresse der Ministerpräsidentenkonferenz. Als bayerische Regierungsfraktion verstehen wir es als unsere Pflicht, dazu unsere Ideen beizutragen – sonst wären wir ja überflüssig.

NZ: Sie sind also für Öffnungen auf relativ breiter Front trotz steigender Infektionszahlen?

Mehring: Das heißt es so nicht. Inzwischen plädieren ja alle dem Grunde nach für Öffnungen, auch der Ministerpräsident. Der stellvertretende CSU-Vorsitzende Martin Sailer hat ja sogar angedroht, auf dem Klageweg Öffnungen erwirken zu wollen. Wir versuchen, das auf verantwortungsbewusste Art und Weise mit einem Konzept zu hinterlegen. Also kein blindes Öffnungen ohne Rücksicht auf Verluste, sondern ein schlüssiges Konzept, wie für die nächsten Monate ein gutes Leben mit Corona eingerichtet werden kann. Wir sehen einen Übergang in eine nächste Phase der Krisenbewältigung angezeigt, nachdem es über viele entbehrungsreiche Monate gelungen ist, die Zahlen zu drücken.

NZ: Am vergangenen Montag hat Söder noch einmal das Festhalten an den Inzidenzwerten betont. Wie sauer wären Sie denn, wenn er mit seinem Kurs der Umsicht und Vorsicht weitermacht und erstmal keine Lockerungen zulässt?

Mehring: Es geht nicht darum, wer über wen sauer ist, sondern was das Beste für unser Land und seine Menschen ist. Ich warne vor einem Fehlschluss: Wenn wir das tun, worüber wir und der Ministerpräsident einig sind, nämlich massiv auf das Thema Testen zu setzen, dann können wir nicht zeitgleich wie das Kaninchen auf die Schlange auf den Inzidenzwert starren. Denn je mehr wir testen, umso sprunghafter wird auch der Inzidenzwert ansteigen. Wenn wir die Teststrategie so hoch fahren, wie wir uns das gemeinsam vorstellen, dann müssen wir uns von dieser starren Fokussierung auf den Inzidenzwert lösen. Sonst können wir zwar das wahre Infektionsgeschehen durch die Tests drücken, gleichzeitig aber verharren wir in einem Dauer-Lockdown, weil die Inzidenzzahlen durch die Aufdeckung vieler versteckter Infektionen natürlich steigen werden.


So kann sich Lauterbach Lockerungen vorstellen


NZ: Spielt das Thema Mutationen, auf welche die steigende Ansteckungszahlen zurückgeführt werden, für Sie gar keine Rolle?

Mehring: Unser "Bayernplan" steht auf jedem Fall unter einem Mutationsvorbehalt. Allen Beteiligten muss klar sein, wenn Mutationen das Infektionsgeschehen aufs Neue befeuern, so dass wir wieder in eine Situation kommen wie im vergangenen Herbst, dann ist selbstverständlich darauf zu reagieren und dann müssen alle Öffnungskonzepte dieser neuen Lage angepasst werden. Die Sorge vor Mutationen darf aber nicht dazu führen, dass wir die ersten Schritte Richtung Freiheit und Normalität erst gar nicht gehen. Ich werbe sehr dafür, diese Schritte zu gehen und sich vorzubehalten, einen halben Schritt zurück zu gehen, wenn das Infektionsgeschehen außer Kontrolle geraten sollte. Die Angst darf nicht dazu führen, dass wir dauerhaft auf der Stelle treten.

NZ: In Ihrem Positionspapier heißt es, zuerst zurücknehmen, was wenig Schutz bietet. Liegt nicht gerade das Problem darin, dass wir immer noch nicht wissen, wo sich der Schwerpunkt des Infektionsgeschehens abspielt?

Mehring: Das ist ein Teil der Wahrheit. Wir wissen schon deutlich mehr über die Verbreitung des Virus als zu Beginn der Pandemie. Es ist zum Beispiel unstrittig, dass draußen die Ansteckungsgefahr geringer ist als drinnen. Wir wissen, dass dort Ansteckungen stattfinden, wo viele Menschen aufeinander treffen, zumal ohne Abstand und Maske. Also ein paar grundlegende Dinge haben wir uns schon erarbeitet. Man hat aber im letzten Sommer verpasst, mehr Studien zu erarbeiten, wo sich die Menschen auf welchem Wege anstecken und welche Hygienekonzepte welchen Grad an Sicherheit bringen können. Das hätte man schon letzten Sommer intensiver erforschen können und sollten es spätestens jetzt tun. Wir haben uns beim Lockdown stark an der Wissenschaft orientiert und sollten das jetzt auch beim Lockup tun.

NZ: Was sollte denn konkret bei der Ministerpräsidentenkonferenz aus Ihrer Sicht herauskommen?

Mehring: Mit unserem Konzept haben wir versucht, eine Reihenfolge der nächsten Öffnungsschritte zu definieren. Wir hätten gerne, dass sich die Ministerpräsidenten auf Kriterien verständigen, die den Menschen einen positiven Anreiz geben, weiterhin diszipliniert mitzumachen. Viel mehr als von klugen politischen Entscheidungen hängen wir in der Corona-Pandemie davon ab, ob wir es schaffen, die Menschen mitzunehmen. Das funktioniert immer schlechter in einem Depressions- und Angst-Modus.

Gerade jetzt wenn es Frühling wird, wird es nicht reichen, den Menschen zu sagen, bitte macht mit, weil es sonst ganz schlimm wird. Anders herum funktioniert es viel besser, nämlich den Menschen zu sagen, wenn ihr mitmacht, gibt es diese und jene Schritte in Richtung Normalität. Dann kann sich das "Team Bayern" durch diszipliniertes Mitmachen mehr Normalität für den Sommer verdienen. Dieses mutige Signal wünschen wir uns von der Ministerpräsidentenkonferenz: Weg vom Angst- und Depressionsmodus, hin zu einem greifbaren Fahrplan zu Normalität und Freiheit.

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