Lochkamera-Einsichten: Die Elbphilharmonie im Holzkasten
16.11.2020, 16:00 UhrVerdammt ruhig ist es geworden, seit Corona das Kulturleben auf Sparflamme köcheln lässt. Auch in Hamburgs noblem Super-Konzertsaal, der Elbphilharmonie, gingen im Frühjahr schon einmal für Wochen die Lichter aus und die Musiker räumten ihre Plätze. Doch wie macht man sich ein Bild von Stille? Eine Frage, auf die die Macher eines noblen Elphi-Magazins ganz offensichtlich eine Antwort fanden – und zwar bei Joachim Lindner in Oberasbach.
Der Fotograf klingt noch immer etwas verwundert, wenn er sich an die überraschende Anfrage erinnert: "Man war durch mein Lochkamera-Buch ,Lange Zeit‘ auf mich aufmerksam geworden und wollte wissen, ob ich mir vorstellen könnte, Camera-obscura-Aufnahmen von Hamburgs neuem Wahrzeichen zu machen." Für Lindner keine Frage: "Da denkst du doch nicht lange nach. Das machst du. Natürlich habe ich sofort Ja gesagt."
Der 58-Jährige ist Werbefotograf und arbeitet in einer renommierten Nürnberger Agentur. Privat aber begeistert ihn ein Dinosaurier der Fotografie: die Lochbildkamera, die denkbar simpel funktioniert. Benötigt wird nicht mehr als ein lichtdichtes Gehäuse mit einer kleinen Öffnung, die Lichteinfall ermöglicht. Schon Leonardo da Vinci beschäftigte sich mit so einem Teil, das als Camera obscura bekannt wurde.
Lindner arbeitet mit einer Righby Pinhole, einem Weihnachtsgeschenk seiner Frau, das auf den ersten Blick auch als Vogelhäuschen durchgehen würde. Denn mehr als einen Holzkasten mit Bohrloch stellt diese Urgroßmutter aller Kameras nicht dar.
Für Joachim Lindner indes wurde das schmucklose Stück zur Leidenschaft. Gut zehn Jahre lang reiste er immer wieder an die Küsten der Ostsee und machte damit Aufnahmen. Ein Geduldsprojekt in jeder Hinsicht, denn für ein Bild kann die Belichtungszeit gut und gerne mal mehr als 20 Minuten betragen.
Ein Türöffner
"Lange Zeit" nannte er dann auch seinen Fotoband mit "Lichtbildern von der Baltischen See", der 2017 veröffentlicht wurde. Ein Buch, das ihm nun die Türen zur weltberühmten Elbphilharmonie öffnete.
Im Sommer hatte Lindner knapp drei Tage Zeit für dieses Projekt, das alles andere war als gewöhnlich. Seine Auftraggeber wollten ausdrücklich keine typischen Architekturfotos, die es von dem hanseatischen Mammutbau längst zur Genüge gibt. Der Fotograf nahm die Herausforderung an. Und ließ die Hoffnungen der Magazin-Planer wahr werden.
Seine Bilderstrecke inszeniert den Konzertsaal als Raum, dessen Formgebung sich dem perfekten Klangerlebnis hingibt – selbst dann, wenn notgedrungen Stille eingezogen ist. Der Bau, errichtet auf dem Sockel eines ehemaligen Kai-Speichers, erscheint auf der Titelseite des Elphi-Magazins noch mehr wie ein Schiff, das, bedrängt von Sturm und Gezeiten, sein Ziel im Hafen erreicht hat.
Über den Fotos mit ihrer sanft verschwimmenden Unschärfe liegt eine große Ruhe. Ein Idyll? Sicher nicht. Denn da sind zum Beispiel die verlassenen Stühle der Orchestermusiker, die verwaist mit weitem Abstand im großen Rund herumstehen.
Ein kleinerer Konzertsaal ist gänzlich leergeräumt. Niemand wird hier aufspielen, keiner lauschen. Die Pandemie hat sich in diesen Bildern breit gemacht – unsichtbar, aber doch unübersehbar.
Die Motivsuche war für Lindner in der Kürze der Zeit, die ihm zur Verfügung stand, eine sportliche Aufgabe. Er ist froh, dass sein Sohn Robin (26), der in Hamburg lebt und gerade seinen Master in Kulturgeografie macht, für ihn vorab Standpunkte auskundschaftete, inklusive Sonnenstand, Ebbe und Flut.
"Das war eine Super-Assistenz, er hat alles perfekt organisiert. Sobald ich ankam, sind wir mit zwei unglaublich klapprigen Fahrrädern los zu Plätzen, die hätte ich allein nie gefunden." Auf einem wackligen Ponton entstand so zum Beispiel kurz vor Sonnenuntergang die letzte Aufnahme der fünf Doppelseiten des Magazins.
Eng getaktet
Ganz im Gegensatz zu der für die Lochkamera typischen Langzeitbelichtung war die Arbeit in der Elbphilharmonie eng getaktet. "Die Fensterputzer hatten sich angesagt und sollten natürlich nicht mit aufs Bild, im großen Saal waren kurzfristig doch wieder Proben für einige Musiker des NDR-Orchesters angesetzt . . ."
Lindner, der erstmals mit der Lochkamera im Innenbereich arbeitete, benutzte 4 x 5 Inch Fotomaterial mit 400 ISO. Für die historische Technik, die keinerlei Bildkontrolle erlaubt, sind vor allem zwei Aspekte wichtig, sagt er: "Gefühl und Erfahrung".
Wenn möglich, machte der Fotograf zunächst ein Polaroidfoto, um die Belichtungszeit besser abschätzen zu können. Doch das traditionelle Sofortbild-Material wird ja seit längerem nicht mehr produziert. Lindner nutzte deshalb alte Bestände, von denen freilich eine komplette Charge eingetrocknet und damit unbrauchbar geworden war.
Nicht ganz einfach war auch die Zusammenarbeit mit dem Labor in Hamburg, das – wegen Corona – nur mit halber Besetzung arbeiten konnte. "Wenn ich mit den Aufnahmen fertig war, hatten die deshalb schon zu."
Aber man fand eine Lösung: "Sobald ich die Filme lichtdicht verpackt hatte, bin ich mit der U-Bahn quer durch die Stadt gefahren und hab’ alles vertrauensvoll im Café neben dem Labor deponiert." Dort wurde sein Material tatsächlich am nächsten Morgen abgeholt und wie erhofft entwickelt.
Seit kurzem hält Joachim Lindner nun das edle Magazin der Elbphilharmonie, das nur drei Mal im Jahr erscheint und auch via Internet bestellt werden kann, (www.elbphilharmonie.de) in den Händen. Wie sich der Blick auf diese Bilderstrecke der ganz besonderen Art anfühlt? "Ich bin schon stolz", sagt der Camera-obscura-Fotograf.
Kontakt und mehr Informationen unter: www.jl-fotografie.de
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