10. März 1971: Rolltreppen sind eine Gefahr
10.3.2021, 07:00 UhrSeit Bestehen dieser Rolltreppen im Jahr 1959/60 ereigneten sich auf ihnen weit über 100 Unglücksfälle, der schwerste im September vergangenen Jahres, als – wie berichtet – die 34jährige Arztfrau Henriette W. mit ihren Beinen bis zur Hüfte unter den stählernen Abstreifrechen gezerrt und erst eine Stunde später von der Feuerwehr, übel zugerichtet, befreit worden war.
Inzwischen weitet sich das Problem der öffentlichen Rolltreppen am Hauptbahnhof zu einem Skandal aus: schon in den Jahren 1965 und 1969 hatte der TÜV im Auftrag der Stadt Gutachten erstattet und auf Mängel hingewiesen, die – so wurde uns von zuständiger Seite versichert – auch behoben wurden.
Bereits damals soll bekanntgeworden sein, daß diese Treppen nicht unbedingt den modernsten Ansprüchen genügen. Aber sie liefen weiter. Neue Unglücksfälle passierten. Die Geschädigten wurden bisher von der Stadt abgewimmelt. Sie gingen leer aus. Regreßansprüche wurden mit dem Hinweis abgetan: „Die Treppen entsprechen den Vorstellungen des TÜV.“
Vierjähriger fast stranguliert
So erging es auch Hans Räder aus Schweinfurt: bei einem Besuch in Nürnberg Ende Dezember 1969 wurde sein vierjähriger Sohn Jürgen auf eben dieser Rolltreppe vor dem Hauptportal des Bahnhofes von einem Passanten zu Boden gerissen. Der Junge geriet beim Sturz mit seinem Mantel und dem Schal zwischen den Abstreifrechen und die rollenden Stufenplatten.
Der Junge drohte zu ersticken, denn die Treppe rollte trotz des stärker werdenden Widerstandes weiter und strangulierte Jürgen bis zur Bewußtlosigkeit. Eine zufällig vorbeikommende Krankenschwester rettete den Jungen. Sie schnitt mit einer Schere Schal und Mantel des Jungen ab, der darauf mit erheblichen Verletzungen ins Krankenhaus kam.
Damals wurde dem Vater des kleinen Jürgen erklärt, der Notschalter am Ein- und Abgang der Rolltreppe sei außer Betrieb gewesen, weil Kinder zuviel Unfug damit treiben würden.
Unstimmigkeiten
War dies vielleicht auch im Fall Henriette die Ursache für die Schwere des Unglücks? Immerhin hatte damals ein Zeuge vergeblich versucht, die Treppe durch Ziehen dieses Nothalteschalters zum Stehen zu bringen. Erst fünf Männer, die sich gemeinsam gegen die rollende Treppe stemmten, schafften es, sie zu stoppen und zu verhindern, daß die Verletzte noch weiter in den Schacht gezerrt wurde.
Vorerst noch stützt sich die Stadt auf das bereits erwähnte jüngste TÜV-Gutachten vom 17. 11. 1970. Diese oft recht vage formulierten Aussagen lassen allerdings viele Möglichkeiten offen. So heißt es unter anderem: „Das Unglück (Henriette W.) wurde nicht durch technisches Versagen der Einrichtung, sondern durch äußere Einflüsse verursacht. Das Einziehen der Gegenstände (die Beine der Frau, d. Red.) am unteren Ende der Treppe, störte den reibungslosen Einlauf der Stufen empfindlich und staute somit das Stufenband auf. Die Treppe war danach durch die Unterbrechung eines Steuerschalters zum Stehen gekommen.“
Und da beginnen bereits die Unstimmigkeiten. Von einem funktionellen Versagen des Nothalteschalters war keine Rede und auch nicht davon, daß erst auf den Widerstand von fünf sich mit aller Kraft gegen die rollende Treppe stemmenden Männern der Steuerschalter ansprach. Vom TÜV unbeantwortet blieb auch die Frage, ob die Einstellskala des Motorschutzschalters im Bereich zwischen 25 und 40 Ampere mit einer Feststellung im untersten Bereich bei 28 Ampere ausreicht.
Denn davon allein hängt es ab, bei welchem äußeren Widerstand – zum Beispiel bei einem Unglück – die Treppe automatisch abschaltet. Auf jeden Fall genügten die Beinknochen von Henriette W., die sogar das metallene Abstreifblech aufwarfen, als Widerstand nicht. Trotzdem kam der TÜV in seinem Gutachten zu dem Ergebnis: „Die Sicherheitsschalter (elf) arbeiten ihrer Aufgabe nach einwandfrei.“
Weiter heißt es: „Der Abnutzung der Fahrtreppe wurde durch ständige Wartung von Fachmonteuren (der Stadt Nürnberg) Rechnung getragen. Selbstverständlich konnte diese Maßnahme bestenfalls auf die Dauer jenen Zustand erhalten, wie er zur Zeit der Installation und der Inbetriebnahme bestand.“
Ist vielleicht zwischen den Zeilen zu lesen, daß die Rolltreppen auch durch die Wartung nicht so gut – sprich sicher – hat werden können, wie sie sein sollten? Bei der Ausschreibung der Stadt für die Rolltreppen beteiligten sich 1958 drei Firmen, davon zwei namhafte auswärtige Rolltreppenbauer mit langjähriger Erfahrung und die ortsansässige Aufzugsfirma Schmitt & Sohn, die durch das preisgünstigste Angebot auch den Zuschlag erhielt.
Nach dem neuerlichen Zwischenfall vor einigen Wochen auf einer anderen der acht Rolltreppen, auf der, die zum Königstor führt – begannen die zuständigen städtischen Stellen stutzig zu werden. Wie berichtet, war damals die Aktentasche eines Schülers unter den Abstreifrechen gezogen worden wie seinerzeit die Beine von Henriette Werning. Man begann im Bauhof zu zweifeln, ob die Rolltreppen überhaupt sicher sind. Jetzt wurde der TÜV mit der Erstellung eines vierten Gutachtens beauftragt. Bis dessen Ergebnis vorliegt, bleiben die Rolltreppen stehen.
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