11. Oktober 1968: Ein Straßen-Tribunal

NN

11.10.2018, 08:32 Uhr
11. Oktober 1968: Ein Straßen-Tribunal

© Ulrich

Die Außerparlamentarische Opposition, der die beiden angehören, nahm das Verfahren zum Anlaß, wieder einmal von sich reden zu machen. Sie veranstaltete vor dem Hauptbahnhof einen eigenen "Prozeß". der natürlich mit einem "Freispruch" von Gerd Sch. endete.

Als die Verhandlung vor dem Amtsgericht begann, war nur der zweite Angeklagte erschienen. Sch. kam mit 50 Minuten Verspätung, weil er ja am "Schauprozeß" teilgenommen hatte. Er entschuldigte sich, daß ihn "entmenschte linksradikale Horden festgehalten und daß ihn seine Freunde und Genossen nun hier abgeliefert hätten".

Der Richter, Assessor Moetzer, und Erster Staatsanwalt Dr. Rößler reagierten auf diesen Gag nicht. So konnte der Prozeß ohne Zwischenfälle fortgesetzt und nach insgesamt dreieinhalb Stunden beendet werden.

11. Oktober 1968: Ein Straßen-Tribunal

© Ulrich

Es ging um ein "sit-in" am 17. März vor der Meistersingerhalle. Zwischen 17.22 und 17.25 Uhr waren die Demonstranten viermal von der Polizei aufgefordert worden, den Platz zu räumen. Unter denen, die trotzdem sitzenblieben, waren Gerd Sch. und Burghard St. Beide brachten vor, im allgemeinen Lärm die Durchsage der Polizei über fünf 100-Watt-Lautsprecher nicht gehört zu haben. St., der einen Sturzhelm trug, meinte, er wäre aufgestanden, wenn ihm die Aufforderung zu Ohren gekommen wäre. Gerd Sch. dagegen erklärte, er habe das Demonstrationsrecht für stärker gehalten und wäre in jedem Fall auf seinem Platz geblieben.

Beide Angeklagte widersetzten sich dem Abtransport durch die Polizei. Dabei machten sie, wie sie zugaben, "Reflexbewegungen". In der Beweisaufnahme erklärte ein Polizist, St. habe nach hinten geschlagen und ihn im Gesicht getroffen. Sein Kollege schilderte, wie Sch. mit den Beinen strampelte und diese gegen seinen Unterleib stieß. Außerdem soll Sch. dem Beamten einen Schuh ins Gesicht geworfen haben. Dies wurde von dem Angeklagten bestritten, der im übrigen erklärte, es falle ihm schwer, dem als Zeuge vernommenen Polizisten "unedle Motive zu unterstellen". Der andere lädierte Beamte, der zugab, sich gegen St. handgreiflich zur Wehr gesetzt zu haben, zog die Strafanzeige wegen der Körperverletzung zurück.

Gerichtsassessor Moetzer sagte in der Urteilsbegründung, seine Aufgabe sei, das Verhalten der Angeklagten an den Strafgesetzen zu messen. Man habe ihnen das Demonstrationsrecht erst beschnitten, als die Sitzung des Parteitags beendet war.

Auch die Delegierten durften für sich Rechte in Anspruch nehmen. Zu ihren Belangen gehörte, die Tagungsstätte ungehindert verlassen zu können. Rücksicht auf andere müßten auch solche nehmen, die ihre Grundrechte in anderer Weise ausschöpfen. Sch. habe zugegeben, daß er nicht aufstehen wollte. Deshalb mußte er verurteilt werden. St. könne man nicht nachweisen, daß er die Aufforderung der Polizei gehört habe. Er war also freizusprechen. Unlautere Motive unterstellte das Gericht keinem der beiden Angeklagten. Andere Töne wurden dagegen bei der "Verhandlung" am Bahnhof eingeschlagen.

Das Megaphon funktionierte nicht

Kurz nach 14 Uhr trafen sich etwa 30 Mitglieder der Außerparlamentarischen Opposition – bitte, mögen's 40 gewesen sein – auf den Halteinseln der Straßenbahn vor dem Hauptbahnhof, um ihren eigenen, "ersten demokratischen Prozeß der Bundesrepublik" durchzuführen.

Die APO-Genossen wußten, worum es ging, die nicht informierten Passanten – es waren nur wenige –, erfuhren, daß für dieses Tribunal auf der Straße die "Projektgruppe Zerschlagt die Justiz" verantwortlich zeichnete. Aus einem Megaphon, das nicht richtig funktionierte, tönte es mal laut, mal leise: "Den Prozeß im Amtsgericht lassen wir die Justiz alleine machen. Sie ist nur ein bezahltes Werkzeug der Oberen. Diese Richter im schwarzen Talar – überheblich, selbstherrlich und eingebildet – wollen dort unter Ausschluß kritischer Öffentlichkeit ein Recht sprechen, das nicht unser Recht ist. Sie sprechen im Namen des Volkes gegen die wirklichen Interessen des Volkes, sie sprechen ein Recht, das kleine Zechpreller mit mehreren Monaten Gefängnis bestraft; Großkapitalistische Steuerbetrüger und Rüstungsgewinner erhalten als Höchststrafe das Bundesverdienstkreuz.

Die Öffentlichkeit, die kaum zu sehen ist, wird aufgefordert, jedes Argument, jede wichtige Tatsache vorzubringen: jeder könne als Ankläger, Verteidiger oder Richter mitmachen. Die Hauptbelastungszeugen gegen die Angeklagten, Polizeirat Meister und Polizeihauptwachtmeister Zorn sollen in der Öffentlichkeit aussagen.

Die Polizeibeamten fochten solche Worte nicht an, dafür meldeten sich die ersten "Zeugen". Sch. hat mir auf meine Frage, warum er zum SPD-Parteitage gehe, geantwortet: "Ich wollte so viele Schwachsinnige auf einmal sehen". Ein anderer "Zeuge" will mit eigenen Augen wahrgenommen haben, wie Polizeibeamte Gerd Sch. getreten hätten. "Da wird sich der Genosse gewehrt haben. Schade, daß er dem Polizeibeamten nur den Schuh ins Gesicht warf. Er hätte einen Pflasterstein nehmen sollen." Vielstimmige Bravo-Rufe der APO-Genossen, die nach der Devise gekommen waren: an unseren Bärten, Mützen mit Stern und Lederjacken sollt ihr uns von den anderen unterscheiden. Schließlich wurde auch noch die Frage: "Weiß jemand den Namen der Polizeibeamten, die getreten haben?" gestellt und mit: "Nein, Polizisten sind bekanntlich Schläger ohne Namen" beantwortet, und ein weiterer "Zeuge" sagte aus: "Ich bin selbst SPD-Mitglied. Ich habe ebenfalls demonstriert, da sich diese Partei endlich demokratisieren muß".

Dem "Richter" genügten diese Aussagen, den angeklagten freizusprechen. "Dafür gehören die SPD und diejenigen auf die Anklagebank, die sich mit ihr verbinden", begründet er den "Freispruch". Die APO-Genossen sind zufrieden. Mit der Internationale auf den Lippen führten sie den "freigesprochenen" Angeklagten zum Gerichtsgebäude. Dort erfuhren sie sehr schnell, daß es in Deutschland Gesetze gibt – die von den gewählten Vertretern des Volkes gemacht werden ...

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