19. Mai 1968: Sprechchöre vor der SPD-Zentrale

F. H.

19.5.2018, 08:07 Uhr
19. Mai 1968: Sprechchöre vor der SPD-Zentrale

© Gerardi

Etwa 700 Demonstranten formierten sich auf dem Lothringer Platz zu einer Kundgebung, als die Belegschaftsmitglieder schon längst die Fabriktore verlassen hatten und nach Hause gegangen waren. Gewerkschaftsfunktionäre, Studenten und Angehörige des Kuratoriums "Notstand der Demokratie" machten trotzdem ihrem Ärger über die Notstandsgesetze lautstark Luft.

Anschließend marschierten die Teilnehmer zur Parteizentrale der SPD in der Karl-Bröger-Straße, wo gerade die SPD-Obmänner tagten. Sie kamen zur Diskussion. Die Menge begnügte sich mit Sprechchören: "Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten" oder "SPD-Verräter, wir sprechen uns noch später" und "SPD und CDU, laßt das Grundgesetz in Ruh" riefen minutenlang die Demonstranten.

19. Mai 1968: Sprechchöre vor der SPD-Zentrale

© Gerardi

Bevor sich schließlich der Zug gegen 19 Uhr in der Karolinenstraße in kleine Diskussionsgruppen auflöste, ließen sich noch etwa 150 Jugendliche auf der Königstraße vor der Lorenzkirche wieder zu einem Sitzstreik nieder. Da sie nur eine Fahrbahn in Beschlag nahmen und nach fünf Minuten das Feld räumten, wurde der Verkehr kaum beeinträchtigt.

Geduldig hatten sich zuvor die Demonstranten die Reden auf der Protestkundgebung auf dem Lothringer Platz angehört, zu der das Kuratorium "Notstand der Demokratie" zusammen mit 19 Organisationen, Studenten-, Schüler- und Arbeitergruppen eingeladen hatten. Vor zwei Spruchbändern mit der Aufschrift "SPD-Genossen macht Euch nicht schuldig an den Diktatur-Vollmachten" und "Keine Wählerstimme für Notstandsbefürworter" ging Dr. Stephan Neupert mit den Bundestagsabgeordneten der großen Koalition hart ins Gericht.

"Mit ihrer Weigerung", so erklärte der Sprecher, "in namentlicher Abstimmung über die Notstandsgesetze zu entscheiden, haben sie sich selbst demaskiert." Als "Demoralisierung der Arbeiter" bezeichnete er den Entschluß des DGB, keine wilden Streiks zu befürworten. "Einmal 1933 ist genug", sagte Dr. Neupert und förderte seine Zuhörer auf; die Macht der Notstandsplaner zu brechen.

Kein Blatt vor den Mund nahm auch Bildungssekretär Horst Klaus. "Der Bundestag hat aus dem Grundgesetz eine abbruchreife Ruine gemacht", rief der IG-Metall-Funktionär durch ein Megafon und prophezeite: "Der Stoß, der das durchlöcherte Bauwerk völlig umwirft, wird kommen." Während das Streikrecht nicht in der Verfassung verankert sei, werde den Unternehmern die Aussperrung gesetzlich garantiert. "Das ist einmalig in Europa", stellte Horst Klaus fest und zog gegen das Widerstandsrecht ("Selbstjustizartikel") und gegen das Arbeitssicherstellungsgesetz scharf vom Leder.

"Wir sind", so formulierte der Bildungssekretär abschließend seinen Protest, "von den Inhabern der Macht zwanzig Jahre lang an der Nase herumgeführt worden. Für den Notstand, der nach der Verabschiedung der Gesetze kommt, sorgen sie jetzt schon." Horst Klaus sagte auch seinen Zuhörern, was sie in den nächsten Tagen tun sollen. "Wir brauchen verstärkte Diskussionen", forderte er und ermunterte die Demonstranten, "originelle Möglichkeiten für gemeinsame Proteste der Arbeiter, Angestellten, Schüler und Studenten in und außerhalb der Betriebe zu finden".

Die nächsten Schritte der Notstandsgegner sind bereits abgesprochen. Heinz Drab vom Kuratorium "Notstand der Demokratie" kündigte zum Schluß der Protestkundgebung an: "Wir bereiten in Nürnberg größere Demonstrationen vor."

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