2. August 1970: Flüstern in düsteren Gewölben
2.8.2020, 07:00 Uhr„Bitte mir nach, die Herrschaften!“ So lädt alle 30 Minuten ein Führer Touristen und Schulkinder, Deutsche und Ausländer zu einer Reise in das finstere Mittelalter ein. Und finster ist es wahrhaftig, in den schmalen Verliesen der Lochgefängnisse. Wo vor ein paar Jahrhunderten Menschen in Schmutz und Elend geschmachtet haben, wo Schuldige und Unschuldige einer grausamen Folterjustiz ausgeliefert waren, flattern jetzt bunte Sommerkleider durch die dunklen Gänge, und manchmal hallt ein helles Lachen von den Gewölben.
Was treibt die Leute in die unterirdischen Zellen hinab? „Neugierde“, sagen die meisten, Sehenswürdigkeitsdrang, wie es sich für einen jeden echten Touristen gehört. Ein Student aus England ist vielleicht am ehrlichsten: „Mich lockt das Schreckliche“, bekennt er ganz offen, „und ich glaube, allen Menschen geht es so. Man schaudert, aber man sieht doch hin, um so eher, als wir selbst davon unbetroffen bleiben“. Der Hinweis, man befinde sich jetzt auf dem Wege zur Folterkammer, wird allgemein mit einem erwartungsvollen „Ah“ und „Oh“ empfangen.
Es wird nur noch im Flüsterton gesprochen, doch die Gesichter und die weitgeöffneten Augen verraten um so mehr. Eine ältere Dame murmelt unaufhörlich „unglaublich, furchtbar“ vor sich hin, wobei ihre Blicke die stumme Zustimmung der anderen zu erhalten trachten. „So eine Gemeinheit“! klingt der Empörungsruf von ein paar Schuljungen über die dicken Mauern und die winzigen Zellen, die kein Licht und keine frische Luft durchlassen. Doch schon im nächsten Augenblick schmieden dieselben Jungen schon phantasiereiche Fluchtmöglichkeiten aus.
Die Erwachsenen verhalten sich weniger lebhaft. Manch ungläubiges Lächeln begleitet die Foltergeschichten einer längst vergangenen und vergessenen Zeit, und mancher Mundwinkel zieht sich nach unten: „Na ja, zum Glück geschieht sowas heutzutage nicht mehr“! Worauf ein älterer Herr sich zu erwidern verpflichtet fühlt: „Manchem Verbrecher würde es auch heute nicht schaden, da ein wenig zu sitzen, aber in unseren Tagen zahlen wir Steuern, damit man den Gefangenen Fernsehapparate in die Zellen hineinschafft“. Diese Bemerkung findet jedoch in den düsteren Gewölben wenig Anklang. Als dann aber bekannt wird, die Lochgefängnisse seien bis 1860 benutzt werden, lockert der schon zitierte englische Student die Stimmung, indem er ausruft: „Dann hätte ja mein Großvater noch drin sitzen können!“
Als kurz darauf die Besucher wieder an das Tageslicht hervorkommen, ist so mancher erleichterter Seufzer vernehmbar. Die Mienen hellen sich auf, auch wenn draußen noch immer der Regen tropft. Man ist froh, die Vergangenheit ruhen zu lassen und im Vergleich mit dem Mittelalter „goldene Zeiten“ zu erleben. Schließlich geht ja dies ganze Schreckliche unser Gewissen nichts an!