22. Oktober 1968: Wein vom Eigenheim
22.10.2018, 07:00 UhrWie der Jahrgang 68 wird? Auch die Rebstockbesitzer, die am Samstag Lese hielten, vermögen es noch nicht zu sagen. Sie wissen nur, daß sie sechs Zentner Reben geerntet haben – drei weniger als letztes Jahr – und daß die Trauben trotz des verregneten Sommers eine beachtliche Süße aufweisen.
Jedes Jahr, nun schon seit 1950, wiederholt sich für Willibald und Anna Schneider Am Kanalhafen 25 das herbstliche Schauspiel: die saftigen blauen Beeren, die wie im Bilderbuch unterm grünen Weinlaub hervorlugen, werden „eingeholt“ und gleich an Ort und Stelle verarbeitet. Das kostet Mühe und Ausdauer.
„Hätten wir doch noch eine Woche mit der Spätlese warten sollen?“, fragte sich Autosattlermeister Schneider angesichts der endlich wahren goldenen Oktobersonne, als er die Trauben – Eimer für Eimer – zerstampfte und die Maische in ein 156-Liter-Faß kippte. Doch der erfahrene Weinbauer beruhigte sich: Amseln und Stare hielten immer reichere Ernte.
Am Abend war der weitverästelte Rebstock leer. Die Schneiders hatten ihn vor 18 Jahren gesetzt, um das wenig attraktive Häusle zu verschönen. Der dürftige Boden wurde mit natürlichem Dung verbessert und jede Ranke durch Schneiden und Binden in die gewünschte Richtung gebracht. Mit der Zeit lohnte sich die viele Arbeit, und selbst ausgepichte Klein- und Weingärtner blieben staunend vor dem Prachtexemplar stehen oder holten sich Ratschläge.
Willibald und Anna Schneider erteilen sie gerne. Eingehend schildern sie, daß der Stock im Januar/Februar im Frost verschnitten werden muß (nach der Blüte im Mai gilt's ihn erneut zu „zwicken“) und daß er nach dem ersten Schnitt und nach der Ernte reichlich gedüngt werden will, um wieder Kraft und Saft zu haben.
Auch die Weinzubereitung verlangt Geschick: schon nach dem ersten Liter Traubensaft, der knapp den Faßboden bedeckt, wird Reinzuchthefe angesetzt. Die Maische gärt drei bis vier Wochen aus und wird dann mehrmals gefiltert, bis kein Satz mehr übrigbleibt. In 30-Liter-Ballons umgefüllt, lagert der junge Wein in einem warmen Raum, um später auf Flaschen gezogen zu werden. Das Etikett verkündet „Rotwein vom Ludwigskanal“.
Zu Weihnachten haben die Kunden des 62jährigen Autosattlermeisters gut lachen: sie bekommen ihr Fläschchen und genießen das purpurrote Erzeugnis Schluck für Schluck – wie auch Willibald Schneider täglich morgens in kleiner Dosis selber. „Er geht ins Blut“, sagt er und lobt damit seinen Wein.
Ob es die letzte Lese war? Das Ehepaar Schneider zuckt die Schultern. Sie wissen nur, daß das Gelände auf dem Häuschen mit Werkstatt und Rebstock stehen, verkauft worden ist. Aber gemach: die „Weingutsbesitzer“ haben vorgesorgt! Nächstes Jahr ziehen sie ohnehin nach Allersberg um, und dort, am Haus in der Rother Straße, gedeiht bereits seit 1960 ein neuer Stock. Wie wird aber dann das Etikett lauten? „Allersberger Auslese“?
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