27. Mai 1970: Der Pleitegeier unter der Zirkuskuppel
27.5.2020, 07:00 UhrAm Nachmittag legten die meisten Artisten und Arbeiter am Volksfestgelände am Dutzendteich die Arbeit nieder: sie traten nicht mehr auf. Begründung: „Der Direktor schuldet uns die Gage!“ Die Abendveranstaltung mußte abgesetzt werden. Besucher standen vor verschlossenen Kassen. Direktor Rudolf Sokol bekannte: „Das Gastspiel wird nicht, wie geplant, bis 31. Mai verlängert.“ Gleichzeitig versicherte er, alles zu tun, damit die Artisten nicht leer ausgehen.
Das ruhmlose Ende des Nürnberg-Gastspiels hatte sich schon in der Nacht zum Sonntag abgezeichnet. Beinahe wäre es zu Tätlichkeiten gekommen, bekundeten Artisten. Die „4 Fratelli e Sorelle Gerardi“ traten schon nicht mehr auf ihren rotierenden Rädern an. Das Programm mußte gekürzt werden. Ihre Kollegen glaubten zu diesem Zeitpunkt noch dem Versprechen der Direktion: „Tretet zur Sonntagnachmittag-Vorstellung an. Jeder bekommt hundert Mark.“ Während dieser Vorstellung verbreitete sich dann wie ein Lauffeuer die Kunde: „Die Kassen sind leer!“ Erregt diskutierten die Artisten noch während des Programms die für sie nicht mehr neue Lage.
Elefantendompteur Oscar Fischer aus Österreich: „Wenn das in meiner Heimat passiert wäre, hätte man den Direktor in Gewahrsam genommen. Seit eineinhalb Monaten warte ich auf meine Gage. Ich habe kein Geld um heimzufahren. Zu Fuß kann ich mit meinen drei Elefanten nicht laufen. Seit 40 Jahren bin ich nun bei Zirkusunternehmen tätig. Aber so etwas ist mir noch nicht passiert. Man hat uns große Versprechungen gemacht, aber nichts gehalten. Ich allein habe über 8000 Mark zu beanspruchen.“ Währenddessen belagerten die Arbeiter den Wohnwagen von Direktor Rudolf Sokol, stürmten Artisten die Tür. Immer wieder forderten sie: „Wir wollen keine Worte hören, sondern Geld sehen.“
Neue Unruhe kam auf, als bekannt wurde, daß die Hotelkosten der Musiker von der Tageseinnahme bezahlt werden mußten. „Ich habe 716 Mark eingenommen. Genau 1057,50 Mark waren aber allein für die Unterbringung der Musiker fällig“, sagte die Dame von der Kasse. Mr. Quinn, ein Impresario und Agent aus England von Weltruf, konnte sich keinen Reim auf die Misere machen. „Die Besucher sagten doch, sie hätten seit Jahren kein so gutes Programm gesehen. Alles ist sauber und gepflegt. Trotzdem kämen am Sonntagnachmittag nur 300 Besucher in das 2000 Mann fassende Zelt.“ Artisten wußten zu berichten, daß eine Nürnberger Bank angeblich Anspruch auf 17 Wagen und die Sitzeinrichtung im Zelt erhebe, um ihre Forderungen zu decken.
Wie sieht Direktor Sokol, ein Mann, der als Pressereferent bei vielen Unternehmen die rauhe zirzensische Luft schnupperte, ehe er sich selbständig machte, die Pleite? „Über finanzielle Dinge kann ich zur Zeit nicht sprechen, Verhandlungen laufen noch. Es war halt viel Pech dabei. Nach guten Erfolgen in Regensburg hatten wir im April das Uhglück, nur an 19 von 30 Tagen spielen zu können. In Nürnberg hatten wir einen schwachen Start. Unser Klasseprogramm ist leider viel zu wenig gewürdigt worden. Jetzt ist erst einmal alles aus. Es wäre nicht dazu gekommen, wenn das Zelt voll gewesen wäre.“