4. Oktober 1967: Ganzes Wohnviertel wie auf einem Pulverfaß

NN

4.10.2017, 07:00 Uhr
4. Oktober 1967: Ganzes Wohnviertel wie auf einem Pulverfaß

© Ulrich

Obwohl die Feuerwehr anfänglich geglaubt hatte, die Gefahr in wenigen Stunden bannen zu können, spitzte sich die Lage gegen abend dramatisch zu. Bei fast völliger Windstille hängte sich das Gas in diesem Gebiet so fest, so daß der kleinste Funke zu einer Katastrophe hätte führen können. In aller Eile mußten 16 Familien mit etwa 50 Menschen aus acht angrenzenden Häusern evakuiert werden. Sie verbrachten die Nacht bei Bekannten und Verwandten oder im Hotel.

In den Stunden zwischen Mittag und Mitternacht überstürzten sich die Ereignisse für Polizei und Feuerwehr: 13:49 Uhr: Gasalarm in der Hauptfeuerwache an der Reuthersbrunnenstraße und im Polizeipräsidium Ludwigstraße. Auf dem Gelände des Aral-Tanklagers in der Merianstraße, das zum Teil an die Firma „Progas“ vermietet ist, entweicht durch ein undichtes Ventil Butangas aus einem unterirdischen Kessel in einen Schacht und strömt in die umliegenden Wohngebiete aus.

4. Oktober 1967: Ganzes Wohnviertel wie auf einem Pulverfaß

© Ulrich

Bei Butan handelt es sich um gasförmige Kohlenwasserstoffe, die sich bei niederen Temperaturen verflüssigen lassen. Es ist unsichtbar und nur in größeren Mengen zu riechen. Sobald sich das Gas erwärmt, verdampft es. Ein Butangehalt von zwei bis neun Prozent in der Luft führt zu einem hochexplosiven Gemisch. Eine höhere Butanmenge schließt diese Explosionsgefahr wieder aus, weil die Luft dann zu fetthaltig wird und im Falle der Entzündung normal verbrennt.

13:56 Uhr: acht Wagen der Feuerwachen Ost (Veilhofstraße) und West (Reutersbrunnenstraße) treffen im Tanklager ein, in dem sich auch große Behälter für Benzin und Öl befinden. Die Belegschaft der Firma, die eine kurze Zeitlang versucht hatte, der heraufziehenden Gefahr mit eigenen Mitteln Herr zu werden, führt die Feuerwehrleute zu einem Schacht, in dem das flüssige Gas bereits heftig brodelt.

14:02 Uhr: die Feuerwehr schließt eine Pumpe an den unterirdischen Butan-Behälter an, der mit etwa 70 Kubikmeter gefüllt ist. Auf diese Weise befördert sie die Flüssigkeit in einen Kesselwagen der Bundesbahn, der auf einem Nebengleis der Ringbahnstrecke zwischen den Bahnhöfen Nordost und Nord steht. Zu dieser Zeit nehmen die Fachleute noch an, daß sie in etwa drei Stunden den Inhalt des Tanks umgefüllt haben werden. Als Helfer in ihren Bemühungen, keine Gefahr für die Wohnhäuser an der Ostseite der Senefelderstraße aufkommen zu lassen, erweist sich Wind aus wechselnden Richtungen, der das verdampfte Butangas rasch hinwegfegt.

4. Oktober 1967: Ganzes Wohnviertel wie auf einem Pulverfaß

© Ulrich

14:28 Uhr: zwei Feuerwehrleute mit Gasspürgeräten prüfen in der Senefelderstraße, ob eine Explosion droht. Dort hat sich das Butangas, das schwerer ist als Luft und daher in Bodennähe haften bleibt, angesammelt und zieht in einer Art von Nebelschwaden über den Erdboden.

15:19 Uhr: noch ahnen die Menschen in der Nachbarschaft nichts von dem Gefahrenherd, der sich vor ihrer Haustür ausbreitet. Die Aufregung ist bisher auf das Gelände des Tanklagers beschränkt geblieben. Die Polizei aber möchte nun ganz sicher gehen. Sie schickt Funkstreifenwagen mit Lautsprechern durch die Merian- und Senefelderstraße, die schon etwas früher für den Verkehr gesperrt worden sind. „Achtung, Achtung, Explosionsgefahr! Bitte melden Sie den Umgang mit offenem Licht, stellen Sie das Rauchen ein!“, warnen die Beamten.

17:50 Uhr: Windstille tritt ein. In der Senefelderstraße und auf den Gleisen der Ringbahn wird ein Butan-Luft-Gemisch festgestellt, das die schlimmsten Befürchtungen aufkommen läßt. Alarmstufe I für Feuerwehr und Polizei. Der Leiter des Amtes für Katastrophenschutz, Stadtrat Albert Bleistein, der schon am Nachmittag die Lage inspiziert hatte und beruhigt wieder abgefahren war, wird erneut herbeigeholt.

18:11 Uhr: Stadtrat Albert Bleistein und Brandrat Reinhard Mengele ordnen an, daß acht Häuser auf der Ostseite der Senefelderstraße geräumt werden müssen. Diese Anwesen liegen nur um die Breite eines Gartens von jenem Schacht entfernt, in den noch immer flüssiges Gas austritt.

Strom und Gas abgestellt

18:28 Uhr: Polizeibeamte klopfen an den Haustüren an und überbringen die Hiobsbotschaft, daß die Bewohner sofort ihr Heim verlassen sollen. Hastig raffen 16 Familien die notwendigsten Habseligkeiten zusammen. Viele Ehepaare mit Kindern wissen nicht, wo sie die Nacht verbringen sollen. Manche der Evakuierten finden bei Freunden und Bekannten Unterschlupf. Diese Menschen hoffen, daß der Spuk bald vorbei sein wird. Aber die Lage spitzt sich weiter zu. 19:35 Uhr: der planmäßige Güterzug zum Nordbahnhof darf die Gleise der Ringbahn nicht mehr passieren, weil das hochexplosive Gasgemisch bis dorthin vorgedrungen ist. Die Merianstraße und ihre nächste Nachbarschaft liegen längst im Dunkeln, denn die Energie- und Wasserversorgungs AG hat die Strom- und Gaszufuhr in dieses Gebiet unterbunden.

19:45 Uhr: die Feuerwehr führt Verstärkungen heran. Sanitäter des Roten Kreuzes, die den ganzen Nachmittag über für alle Fälle einsatzbereit standen, werden von Kollegen abgelöst. Die Polizei beschließt, ihre Sicherheitsvorkehrungen zu erweitern. Niemand außer den Feuerwehrleuten darf sich mehr der Lagerhalle nähern, unter der die Gefahr in Form des Butankessels schlummert.

Obdachlose im Hotel

20:05 Uhr: Feuerwehrmänner und Polizeibeamte atmen ein bißchen erleichtert auf: der unterirdische Behälter ist bis auf einen kleinen Rest von wenigen Kubikmetern leergepumpt. Jedoch im Schacht steht noch immer die gefährliche Flüssigkeit, denn es ist nicht gelungen, die Stelle am schadhaften Ventil abzudichten. Draußen ist es kühl geworden, kein Lüftchen rührt sich mehr. Einer Dunstglocke gleich, hängt das Gas bis zu drei Metern hoch über den Gärten des Wohngebietes.

20:30 Uhr: die Einsatzleitung mit Brandrat Reinhard Mengele und Polizeirat Horst Zeitz überlegt angestrengt, wie sie da Gasgemisch in Bodennähe wirkungsvoll beseitigen kann. Die Feuerwehr bietet zunächst einen Großraumlüfter an, mit dem sich Bewegung in die Luft bringen läßt. Der Gedanke an den Einsatz einer solchen Windmaschine wird jedoch verworfen, weil niemand sagen kann, ob damit der erwünschte Effekt erzielt wird.

21:14 Uhr: ein neuer Plan taucht auf. Die verantwortlichen Männer wollen einen Spezialtankwagen mit besonders starken Pumpen einsetzen, der die Reste des Gases aus Schacht und Kessel herauszusaugen und auf den Tankwagen der Bundesbahn zu übertragen vermag. Das Fahrzeug ist greifbar, aber sein Fahrer nicht. Der Mann wohnt in Diepersdorf (Landkreis Nürnberg). Über Funk bittet die Nürnberger Polizei ihre Kollegen in Altdorf, den Fahrer zu holen.

22:05 Uhr: die obdachlosen Familien, um die sich bis dahin noch niemand gekümmert hat, werden von der Einsatzleitung zusammengerufen. Es stellt sich heraus, daß 33 Menschen kein Quartier für die Nacht haben; es ist aber zu dieser Zeit schon sicher, daß sie nicht in ihre Wohnungen zurückkehren können. So rasch es geht, werden die Leidtragenden dies Schadensfalles im Hotel „Am Stadtpark“ untergebracht und verpflegt.

22.40 Uhr: Fahrer und Tankwagen treffen am Lagerplatz ein. Die Leitung der Feuerwehr bespricht noch einmal alle Einzelheiten diese Einsatzes, denn sie will nun Nägel mit Köpfen machen und auf alle Fälle verhindern, daß sich weiteres flüssiges Gas verflüchtigt. Polizei und Feuerwehr wissen um diese Stunde, daß sie eine lange Nacht haben werden. Es ist nicht daran zu denken, die Sicherheitsvorkehrungen aufzugeben.

0:10 Uhr: die Pumpen laufen. Die letzten Reste des Butans wandern nach und nach in einen sicheren Behälter. Bei einem Gespräch mit dem Wetteramt erfährt der Leiter des Katastrophenschutzamtes, Albert Bleistein, daß am frühen Morgen Wind aufkommen soll. Seine Hoffnung wächst, daß sich dann das Gasgemisch aus den Gärten und von den Bahngleisen verzieht.

Die größte Gefahr scheint gebannt. Endgültige Sicherheit wird freilich erst der heutige Morgen bringen. Die Feuerwehrleute wollen mit ihren Gasspürgeräten noch einmal jede Mulde und jeden Winkel überprüfen. Der Gasalarm wird erst abgeblasen, wenn auch die letzte Gefahrenquelle erkannt und beseitigt ist.

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