5. September 1968: Verdacht: langhaarig
5.9.2018, 07:00 UhrGestern traf man sich wieder, diesmal nicht in der Bahnhofsgaststätte, sondern vor dem Richter, der Student als Angeklagter, der Polizeibeamte in der Rolle des Zeugen. Text der Anklage: versuchte Nötigung und Beleidigung. Es war am Vormittag des 3. Februar, nach einer langen Nacht auf dem vorausgegangenen Akademiefest, als besagter Student zusammen mit fünf oder sechs Kommilitonen den Alkoholkonsum in der Bahnhofsgaststätte fortsetzte.
Einer Polizeistreife, die nach unerwünschten Elementen fahndete, insbesondere solchen mit Bahnhofsverweis, war er aufgefallen, wegen seiner langen Mähne, seines verwegenen Umhanges und seines wenig gepflegten, übernächtigten Aussehens.
Hörte man gestern den Polizeibeamten, so hatte er diese verdächtige Gestalt – „Ich glaubte in ihm einen Gammler mit Bahnhofsverweis zu erkennen“ – in der höflichsten Form um ihren Ausweis gebeten. Der sensible Kunstjünger „Ich fühle sofort, wenn jemand auf mich zukommt, ob er mir böse gesinnt ist“ – indessen empfand es schon als eine Beleidigung, daß ausgerechnet er nach seinen Personalien gefragt wurde. „Wegen seiner langen Haare“, so klagte er jetzt dem Richter, „war ich schon oftmals auf der Straße völlig grundlos von Polizeibeamten kontrolliert worden“.
An den unliebsamen Ereignissen, die sich dieser kritische Begegnung anschlossen, waren noch zwei andere Studenten beteiligt. Einer der beiden saß mit auf der Anklagenbank, der andere war nicht erschienen.
Zu Tätlichkeiten war es erfreulicherweise nicht gekommen. Die beiden Angeklagten hatten aber von „Weihnachtsmännern“ und „Lausbuben“ gesprochen. Der Langhaarige – vor Gericht war er kaum wieder zu erkennen, so rigoros hatte er inzwischen seine Haartracht gestutzt – wurde zudem vom Staatsanwalt einer versuchten Beamtennötigung bezichtigt. In großsprecherischer Art hatte er im Beisein der Polizei von angeblich glänzenden Beziehungen zur Presse gefaselt, in die er den Beamten bringen und auf diese Weise dafür sorgen werde, daß er seine Uniform ausziehen müsse. Der Staatsanwalt erblickte darin eine Drohung mit einem Übel und forderte für diese Tat drei Monate Gefängnis.
Der Richter, der alles auf ein vernünftiges Maß zurückführte, ließ es gelten, daß der Großsprecher das nur so in der Aufregung zu seinem Freund gesagt haben wollte, nicht aber zur Polizei. Die drei Monate fielen deshalb aus. Es gab für beide nur wegen Beleidigung eine Geldstrafe von je 100 DM oder fünf Tage Haft. Dem Werte des Ganzen angemessen.
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