Corona-Krise im Nahverkehr: Wo es knirscht - und was zu tun ist

Ngoc Nguyen

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7.10.2020, 05:55 Uhr
Corona-Krise im Nahverkehr: Wo es knirscht - und was zu tun ist

© Foto: Daniel Karmann/dpa

Herr Professor Kipke, der große Verlierer der Corona-Krise ist der öffentliche Nahverkehr. Sie sind als vehementer Befürworter des ÖPNV bekannt, sind Sie nun sehr enttäuscht?

Professor Harald Kipke: Ich rechne schon damit, dass sich mittelfristig der ÖPNV erholen wird. Für mich ergibt sich aber eine ganz zentrale, bisher ungelöste Frage: Warum haben ausgerechnet die Länder, die einen sehr hohen ÖPNV-Anteil haben – Japan zum Beispiel, Südkorea, Hongkong –, warum haben die denn so geringe Infektionszahlen? Während etwa die Vereinigten Staaten mit einem sehr geringen ÖPNV-Anteil so hohe Infektionszahlen haben?

Prof. Harald Kipke (61) ist Leiter des Masterstudiengangs Urbane Mobilität an der Technischen Hochschule Nürnberg und hat die Forschungsprofessur Intelligente Verkehrsplanung am "Nuremberg Campus of Technology (NCT)" inne. Er forscht unter anderem zu den ökonomischen Wirkungen von Verkehrsangebots- und Siedlungsstrukturen.

Prof. Harald Kipke (61) ist Leiter des Masterstudiengangs Urbane Mobilität an der Technischen Hochschule Nürnberg und hat die Forschungsprofessur Intelligente Verkehrsplanung am "Nuremberg Campus of Technology (NCT)" inne. Er forscht unter anderem zu den ökonomischen Wirkungen von Verkehrsangebots- und Siedlungsstrukturen. © Foto: Michael Matejka

Möglicherweise hängt die geringe Zahl an Infektionen im asiatischen Raum auch mit dem dort üblichen Tragen von Gesichtsmasken zusammen. Es gibt übrigens eine Studie der London School of Hygiene and Tropical Medicin aus dem Jahr 2013, die im Hinblick auf die Infektion durch das Grippe-Virus keinen Unterschied festgestellt hat zwischen den Nutzern der Öffentlichen und denen, die sie nicht nutzen.

Baureferent Daniel Ulrich hat betont, die Stadt plane mit einem starken ÖPNV. Weil Nürnbergs Bevölkerung älter werde. Ich weiß nicht, ob diese Annahme so stimmt. Die ältere Gesellschaft, von der wir jetzt sprechen, ist die Generation, die mit dem Automobil groß geworden ist. Und das ist die Generation, die auch mit oder ohne Corona vehement an ihrem erlernten Verkehrsverhalten festhält. Da haben sich Routinen eingestellt und bekanntlich ist es mit zunehmendem Alter immer schwieriger, von Gewohnheiten abzurücken. Wenn diese Menschen einmal so alt sind, dass es für sie schwierig wird, selbst Auto zu fahren, dann wird es eher dazu kommen, dass sie das Haus überhaupt nicht mehr verlassen oder sich fahren lassen. Ich persönlich sehe in den öffentlichen Verkehrsmitteln hauptsächlich junge Leute.

Von welchem Szenario soll die Stadtplanung denn stattdessen ausgehen?

Kipke: Das Coronavirus ist ein akutes Thema, das hoffentlich einmal vorbei sein wird. Aber das eigentliche, große Thema für die Stadtplanung ist das Homeoffice. Wir als Gesellschaft befinden uns diesbezüglich seit langem in einem Veränderungsprozess. Corona ist der Katalysator, der eine Reaktion in Gang bringt. Ein Kollege, der in einem Ingenieurbüro arbeitet, hat vor kurzem bemerkt, dass sie noch nie so produktiv waren wie in der Zeit von Corona. Ganz einfach, weil die ganzen Dienstfahrten weggefallen sind. Seit Corona hat sich gezeigt, dass viele Leute mehr Homeoffice machen wollen, auch viele Arbeitgeber sehen das sehr positiv.


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Was wird das Homeoffice für Auswirkungen haben?

Kipke: Das Auto ist gerade für viele Leute im Berufsverkehr sehr wichtig, aber die Menschen werden mehr zu Hause bleiben können und sich auch Waren zukommen lassen. Das kann man gut oder schlecht finden, aber es passiert einfach. Und wenn man nur noch ein-, zweimal die Woche in der Arbeit vor Ort ist, dann werden manche Leute auch wieder vermehrt ins Umland ziehen wollen. Es ist damit auch eine große Chance für den ländlichen Raum. Aber natürlich nur, wenn dort auch die Ausstattungsdefizite beseitigt werden. In jeglicher Hinsicht könnte es zu weniger Verkehr in den Städten kommen und damit zu einer qualitativen Verbesserung des städtischen Umfelds führen.

Aber wenn die Menschen aufs Land ziehen, fahren sie doch öfter Auto?

Kipke: Das kommt darauf an, wie die Politik reagiert. Dennoch gibt es letztendlich immer weniger Zwangsmobilität, sie müssen nicht mehr so weite Wege zurücklegen und auch nicht mehr so oft unterwegs sein. Stellen Sie sich vor, es gäbe mehr Leute auf dem Land. Die lassen ihr Geld dann dort, möglicherweise gibt es dann wieder mehr Gaststätten und Geschäfte, wo man einkaufen gehen kann. Und somit gibt es immer weniger diese Notwendigkeit, ein Auto vorhalten zu müssen.


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Viele Autofahrer fühlen sich jetzt schon übergangen und an den Pranger gestellt. Es geht mir um eine vernünftige Stadtplanung. Was wir im Verkehr brauchen, ist eine übergeordnete Messgröße, und die führt zu der Frage: Wie können wir unsere Mobilität mit einem Minimum an Energieaufwand realisieren?

Dennoch ist der ÖPNV der Verlierer der Corona-Krise, oder?

Kipke: Nein, zumindest nicht in der politischen Wahrnehmung, da hat er sogar eine Aufwertung erfahren. Früher hatte er ja immer den Hauch des Defizitären, es hieß: Der ist ja immer unwirtschaftlich. Das hat mich gewundert, dass man da nicht gesagt hatte: Jetzt kommt Corona, es fährt sowieso keiner mehr mit den Öffis, jetzt könnte man sie ganz einstellen. Das hat interessanterweise nicht stattgefunden. Inzwischen tut es offenbar nicht mehr so weh, dass der ÖPNV Geld kostet.

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