Drogen-Streetworker in Nürnberg: Plötzlich sind zwei Klienten tot

Anne Kleinmann

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23.12.2019, 11:52 Uhr
Die mudra wurde bereit 1980 in Nürnberg gegründet. Die Drogenhilfe betreut rund 2000 Menschen; es wird aber davon ausgegangen, dass die Zahl an Menschen, die harte Drogen konsumieren, in Nürnberg noch um ein vielfaches höher liegt.

© mudra/Alexandre Barcellos Die mudra wurde bereit 1980 in Nürnberg gegründet. Die Drogenhilfe betreut rund 2000 Menschen; es wird aber davon ausgegangen, dass die Zahl an Menschen, die harte Drogen konsumieren, in Nürnberg noch um ein vielfaches höher liegt.

Spritzen, Nadeln mit 12, 16, 23 und 25 Millimeter Länge, Tupfer, Ascorbinsäure und Folie – alles verstaut in einer Tasche, die Martin Kießling bei jedem Schritt rhythmisch gegen seine Hüfte schlägt. "Es kann vorkommen, dass ich aus dem Urlaub zurückkomme und zwei meiner Klienten sind tot", erzählt der Streetworker, während er durch den Stadtgraben an der Stadtmauer entlang Richtung Nürnberger Hauptbahnhof läuft.

Es ist kalt an diesem Freitagnachmittag, keine Sonne, nur graue Wolken, dafür regnet es nicht. Kießling hat seine Hände tief in seiner Jacke begraben, um sie vor der Kälte zu schützen. Um seine Schultern hängt die Tasche auf der als Erkennungszeichen der Name seiner Arbeitsstelle steht: die Drogenhilfe in Nürnberg "mudra". Darin sind die Materialien, die seine Klienten zum sogenannten ‚saver use‘ brauchen. Die wird er heute auf dem Bahnhofsvorplatz an Konsumenten ausgeben – an alle, die noch da sind.

Nürnberg hat heuer die meisten Drogentoten

27 Menschen sind in diesem Jahr in Nürnberg an einer Überdosis gestorben. Dreizehn von ihnen im öffentlichen Raum wie zum Beispiel auf Toiletten. Einer starb auf einem Spielplatz. In Relation zur Einwohnerzahl ist Nürnberg damit heuer bundesweiter Spitzenreiter, was die Anzahl an Drogentoten angeht. Im übrigen Bayern sieht es nicht besser aus: Seit 2012 hat der Freistaat Nordrhein-Westfalen als Bundesland mit den meisten Drogentoten abgelöst.

Um die Anzahl zu senken, setzen andere Bundesländer auf sogenannte Konsumräume. Dort erhalten Konsumenten nicht nur frische Spritzen, sondern dürfen ihre mitgebrachten Drogen unter Aufsicht konsumieren. Bei einer Überdosis greift geschultes Personal ein. In Bayern gibt es solche Räume nicht, die CSU spricht sich vehement dagegen aus, obwohl Experten eine deutliche Meinung haben: "Die Erfahrungen in anderen Bundesländern und wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass solche Räume die Zahl der Toten verringert", bringt es der Geschäftsführer der mudra, Norbert Wittmann, auf den Punkt.


CSU setzt auf Naloxon statt Drogenkonsumräume


Kießling tritt durch die Glastür hinaus auf den Bahnhofsvorplatz. Der Gestank von Zigarettenrauch, Bierdunst, Urin und ungewaschenen Körpern vermengt sich zu einem, kurz überdeckt von dem Parfum vorbeieilender Passanten. Hier auf der Steintreppe vor dem Haupteingang des Bahnhofes treffen sich Trinker und Drogenabhängige. Mit seiner Tasche stellt sich Kießling an den rechten Rand des Platzes. "Wir stellen uns nicht frontal in die Mitte, sondern verhalten uns passiv. Die Menschen müssen freiwillig auf uns zukommen."

Die Königstorpassage gilt als ein Hotspot in der Drogenszene.

Die Königstorpassage gilt als ein Hotspot in der Drogenszene. © Barbara Struller

Es vergehen nur wenige Minuten, da kommt Jasmin (Name geändert) auf ihn zu. Jasmin ist 'drauf'. Während sie mit Kießling spricht, spielt sie an ihrem Regenschirm herum. Stillstehen kann sie nicht. Ansonsten sieht man ihr den Konsum äußerlich nicht an: Jeans, Winterstiefel, dicke Jacke, das Gesicht mit Rouge, Wimperntusche und Eyeliner geschminkt, die Haare geglättet. Und auch sonst scheint sie völlig klar: Mit 15 Jahren, erinnert sie sich, nahm sie das erste Mal Drogen. Erst Partydrogen, wie Pillen und Speed, dann mit 18 den ersten Schuss Heroin. Mittlerweile ist sie 25 und konsumiert täglich.

"Ich brauche am Tag 80 Euro damit ich gesund bin, damit ich so normal sein kann, wie ich gerade bin." Gesund machen, so nennt sie es, wenn sie ihrem Körper das gibt, wonach er verlangt. "Drauf zu sein" ist für sie der Normalzustand. Hat sie kein Geld, um sich eine neue Ladung zu kaufen, kommt ihr Körper dagegen in den Entzug. "Das Leben dreht sich also nur noch darum, nicht in den Entzug reinzukommen. Deswegen nennen wir das auch 'uns Gesund machen', obwohl es das ja nicht ist."

Auf der Straße lebt Jasmin nicht. Sie ist in einer Sozialpension untergekommen. Ihre Drogen konsumiert sie trotzdem oft in der Öffentlichkeit. "Das kostet zu viel Zeit extra zurückzufahren, weil ich muss dann ja weiter schnorren." Allerdings: "Wenn es einen Konsumraum geben würde, würde ich den auf jeden Fall nutzen, weil es jemanden gibt der eingreift, falls was schief geht."

Abhängige sprechen sich für Konsumräume aus

2018 führte die mudra eine Befragung unter Abhängigen in Nürnberg durch. Das Ergebnis: 87,5 Prozent der Konsumenten gaben an, dass sie einen Drogenkonsumraum aufsuchen würden. Auch die Bundesärztekammer forderte die bayerische Staatsregierung angesichts der hohen Zahlen auf, solche Räume einzurichten.

Doch in München sieht man es anders. "Die Anzahl der Drogentoten ist immer unterschiedlich. Also schaut man sich die Zahlen über die Jahre an, stellt man Wellenbewegungen fest", erklärt Gesundheitsministerin Melanie Huml am Telefon. Zu Drogenkonsumräumen habe die Bayerische Staatsregierung eine klare Meinung, fährt sie fort. "Solche Räume helfen nicht dabei die Zahl der Drogentoten zu verringern, sondern sie schaffen sogar noch falsche Anreize." Grundsätzlich sei es ein Widerspruch zu erlauben, illegale Substanzen in solchen Räumen zu konsumieren, die eigentlich strafrechtlich verfolgt würden.


Kommentar zu Drogenkonsumräumen: Ideologie ist hier fehl am Platz


Im Nürnberger Rathaus, im 1. Stock ist von dem Gestank am Hauptbahnhof nichts mehr übrig. Er riecht nach Putzmittel und nach den Bratwürsten, die um die Ecke verkauft werden. Über die Problematik in seiner Stadt weiß Oberbürgermeister Ulrich Maly trotzdem genau Bescheid - und hat eine klare Meinung: "Ich habe für mich so ein Bild eines Bauchladens in der Drogenpolitik vor Augen", sagt er und malt mit seiner Hand ein Rechteck in die Luft.

Der größte Teil davon sei die Prävention. "Zudem muss man natürlich die Verfügbarkeit von Drogen angehen und dann kommt der Therapiebereich." Am Ende, so Maly, gebe es aber immer noch Menschen, für die – aus welchen Gründen auch immer – alle Angebote nicht in Frage kämen. "Und da zeigt sich aus den Erfahrungen in anderen Bundesländern, dass ein Konsumraum solchen Menschen die Chance bietet, einer Überdosis zu entkommen."

Jasmin hat schon mehrere Freunde verloren. Und, nur weniger Meter von dem Platz an dem sie jetzt steht, auch ihren Freund. "2014, am zweiten Weihnachtsfeiertag, ist er an einer Überdosis gestorben, hier im Bahnhof auf einer Toilette." Hätte es so einen Raum gegeben, wäre das nicht passiert. Ich versteh nicht, warum Bayern da so hinterher ist."

Jasmin will erneut eine Entgiftung versuchen

Kießling hört viele solcher Geschichten. Zwei Stunden verbringt er auf dem Platz, bis er sich noch ein Mal umschaut und dann Richtung Haupteingang läuft. "Heute war vergleichsweise wenig los. Manchmal kommen mehr, das ist immer unterschiedlich." An die 100 Spritzen hat der Streetworker heute verteilt.

Jasmin wird bei der nächsten Ausgabe nicht mehr da sein, erzählt sie, während sie an einer Zigarette zieht. Drei Mal hat sie schon eine Entgiftung versucht. "Es gab eine Zeit, da habe ich jeden Tag Crystal gezogen und mir alles aufgekratzt." Jasmin schiebt ihren Pullover ein kleines bisschen nach oben. Der untere Teil ihres Bauches ist übersäht mit kleinen Narben. Jetzt will sie erneut versuchen, von den Drogen wegzukommen. "Ab der kommenden Woche bin ich bei der Entgiftung." Dienstag gehe es los. "Dann ist das vorbei."

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