Nachts allein auf der Straße: Nürnbergerin hatte noch Glück
17.3.2021, 05:59 UhrDie Atmung wird flacher und schneller, die Muskeln spannen sich an, der Blutdruck steigt. Ein Mensch hat Angst. Diese Gefühlserregung ist den Menschen von Natur aus angelegt, sie hat die Funktion der Schutz- und Überlebenskraft, durch die Sinne schärfer und die Körperkraft aktiver wird. Die Reaktion eines potentiellen Opfers: Angriff oder Flucht. Daniela O. entschied sich für Flucht. Die Rückertstraße im Nürnberger Stadtteil St. Johannis verwandelte sich für die 50-Jährige von eine auf die nächste Minute in einen Angst-Raum. Aus ihrem Sicherheitsempfinden wurde akute Verunsicherung.
Der Vorfall geschah während der vorigen Ausgangssperre. O. geht nachts mit ihrem Hund Gassi - das ist erlaubt, Gassi-Gehen ist ein triftiger Grund, die Wohnung zu verlassen. Es ist etwa 23.15 Uhr. "Ich bin während der Ausgangssperre immer mutterseelenalleine auf der Straße. Polizei ist mir da bislang noch nicht begegnet", sagt die zweifache Mutter.
"Was hast du für ein Problem?"
Sie sieht auf ihrer Tour einen Mann auf sich zukommen. Der Gehweg ist sehr schmal, sie wechselt die Straßenseite. Doch der Unbekannte brüllt: "Was hast du für ein Problem?". O. ignoriert das Geschrei und geht weiter - und der Mann hinter ihr her. "Der war wie ein verlängerter Schatten", erzählt sie rückblickend. Sobald die 50-Jährige ihr Tempo erhöht, geht auch ihr Verfolger einen Schritt schneller. Sie sind alleine, die Straßen wie ausgestorben. Es ist niemand da, an den sich die Frau hilfesuchend wenden kann. Als sie dann doch einen anderen Mann sieht, spricht sie diesen an - doch der ignoriert O. und verschwindet in einem Hausgang.
"Hau ab!", schreit sie Richtung Verfolger und beginnt zu rennen, irgendwann ist er nicht mehr hinter ihr. O. konnte ihn offenbar abschütteln. Das nächtliche Erlebnis verfolgt die Frau noch tagelang. "Ich bin eigentlich gar nicht ängstlich, aber in dieser Situation spürte ich grenzenlose Angst." Für O. ist klar: Gassi geht sie mit ihrem Hund auch während der aktuellen Ausgangssperre nur noch vor 22 Uhr.
Menschliche Überreste in einem Waldstück
Ist der öffentliche Raum nach Einbruch der Dunkelheit für Frauen nun eine grundsätzliche Gefahr? Die Diskussion darum hat mit einem aktuellen Fall aus London weltweit wieder an Fahrt aufgenommen. Anfang März hatte die 33-jährige Sarah E. einen Freund im gutbürgerlichen Süd-Londoner Stadtteil Clapham besucht. Gegen 21 Uhr machte sie sich auf den Heimweg zu ihrer Wohnung, die sich rund 50 Minuten Fußweg entfernt befand. Dabei durchquerte sie den beliebten Park Clapham Common. Zuhause kam die Frau aber nie an. Die Polizei suchte tagelang nach der Frau, in der vergangenen Woche fanden sie in einem Waldstück nahe der südostenglischen Grafschaft Kent menschliche Überreste - die Obduktion ergab, dass es sich bei der Leiche um Sarah E. handelt. Ein Mann, der als Polizist arbeitet, soll die Frau zuerst entführt und dann ermordet haben.
Ergebnis "uneindeutig": Zweite Obduktion im Fall Sarah Everard
Der Fall sorgte auf den großen Social-Media-Plattformen für viel Traffic. Ein Beitrag, den die Personal-Trainerin und Influencerin Lucy Mountain auf Instagram teilte, wurde besonders oft geteilt. Die Ausführungen in der Bildunterschrift sprechen Bände. "Wir haben alle unsere Schlüssel zwischen unseren Fingern gehalten. Wir haben alle Telefonanrufe getätigt, sowohl echte als auch gefälschte. Wir haben alle unsere Haare in unsere Mäntel gesteckt. Wir sind alle durch dunkle Straßen gerannt. Wir haben alle über unsere Fluchtwege nachgedacht." Mit dem Bild, "schreib mir, wenn du nach Hause kommst", verdeutlicht Mountain die "Standardprozedur unter Frauen".
"Angst-Räume"
Nach solchen Ereignissen ist der Begriff der "Angst-Räume" sehr präsent. Gemeint sind öffentliche Räume in der Stadt, Parks, Plätze sowie Straßen, die im Dunkeln liegen und teils auch schmutzig und vernachlässigt aussehen. "Der Begriff 'Angst-Räume' ist aber polizeilich schwer zu definieren, weil die Einschätzungen sehr individuell, subjektiv und dadurch polizeilich kaum messbar sind", erklärt Wolfgang Prehl, Sprecher im Polizeipräsidium Mittelfranken.
Prehl verweist darauf, dass mit Blick auf die Kriminalstatistik die erfassten Straftaten pro Hunderttausend Einwohner seit Jahren rückläufig sind. In Mittelfranken sind sie von 84.256 in 2019 auf 78.745 gesunken. Blickt man alleine auf die Gewalttaten ergibt sich ein ähnliches Bild: Sie gingen von 3233 auf 2856 im vergangenen Jahr zurück.
Videoüberwachung und mehr Polizisten
Dennoch müsse man solche Ängste ernst nehmen, so Prehl. Orte, an denen statistisch gesehen mehr Straftaten passieren, als anderswo, stehen schon länger unter verschärfter Beobachtung. Dazu zählen der Hauptbahnhof mit seiner Umgebung, die Königstorpassage und der Plärrer. Die Maßnahmen an diesen Brennpunkten: Videoüberwachung, mehr Polizisten gehen auf Streife, Vernetzung mit weiteren Behörden und Einrichtungen wie das städtische Ordnungsamt, die Bundespolizei, Justiz, VAG, Sozialdienste und Hilfsorganisationen.
Die Videoüberwachung ist jedoch in erster Linie ein Mittel, Straftaten im Nachgang aufzuklären. Ob mit ihnen Straftaten verhindert werden können, ist höchst umstritten. Festzuhalten ist: Angst-Räume sind nicht zwingend auch gefährliche Orte im Sinne des Polizeiaufgabengesetzes, wie eben der Hauptbahnhof oder der Plärrer. Sie können überall sein. Angst-Räume sind auch nicht auf einen Straßenzug, einen Park oder eine Gasse beschränkt. Es gibt sie auch im Netz, im virtuellen Raum. Oder können daraus entstehen.
Sexuelle Übergriffe gemeldet
Wo findet man derzeit einen Partner oder eine Partnerin, wenn Kneipen, Bars und Clubs in Pandemiezeiten geschlossen sind? Antwort: Verstärkt im Netz, etwa auf Dating-Plattformen. Und genau damit hat das Risiko für Frauen, Opfer von Gewalt zu werden, weiter zugenommen, berichtet Kerstin Lindsiepe, Geschäftsführerin der Frauenberatung Nürnberg für gewaltbetroffene Frauen und Mädchen. Denn die Bar war und ist für Frauen noch die Möglichkeit, den Mann in der Öffentlichkeit und auf Distanz kennenzulernen. "Ausgangssperre und geschlossene Kneipen führen dazu, dass die Frauen gleich zu ihm nach Hause gehen", sagt sie. "Einige Frauen haben uns nach so einem Date schon sexuelle Übergriffe durch diese Männer gemeldet."
Außerdem: Frauen wie Daniela O., die nachts von einem Fremden verfolgt wurde, bleibt derzeit die Gaststätte als Zufluchtsort verwehrt. Lindsiepe rät, die Gassi-Runde so zu legen, dass der Weg bei Nachbarn oder Freunden vorbeiführt, die zu Hause sind und bei denen man im Notfall klingeln kann. "Hilfreich kann auch sein, wenn die Betroffene nachts beim Rundgang mit dem Handy telefoniert. Entsteht eine Notlage kann sie dem Gesprächspartner sagen, wo sie sich befindet und dass der- oder diejenige die Polizei dorthin schicken soll."
"Die Angst ist nicht immer rational begründbar"
Allerdings schlafen zu später Stunde oft Freunde und Verwandte schon. Für solche Fälle gibt es das von einem Verein betriebene "Heimwegtelefon", das bundesweit erreichbar ist. Rund 100 Ehrenamtliche arbeiten dort, nehmen Anrufe aus ganz Deutschland an und unterhalten sich auf dem Weg mit den Angerufenen. Über Geodaten erkennen die Telefonist(inn)en, wo sich die Anruferin oder der Anrufer (etwa 70 Prozent sind Frauen) befindet und können im Notfall die Polizei rufen. (Heimwegtelefon: 030/12074182; So. - Do. 18 bis 0 Uhr und Fr. + Sa. 18 bis 3 Uhr)
Dass man die Angst der Frauen "sehr ernst" nehmen muss, findet auch Gabriele Kett-Straub. Die Professorin am Institut für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen sagt aber außerdem, dass diese Angst "nicht immer rational begründbar ist". Denn nächtliche Überfälle im öffentlichen Raum auf Frauen seien ein sehr seltenes Ereignis. "Doch jeder Fall ist schon deshalb besonders schlimm, weil er eine Art Sogwirkung hat, indem er eine noch größere Verunsicherung bewirkt", ist sich die Kriminologin sicher.
Die Folge: Viele Frauen würden sich selbst Freiheiten nehmen, die eigentlich zu einem positiven Lebensgefühl gehörten, wie eben unbeschwert von Ängsten alleine unterwegs zu sein. "Interessanterweise nimmt man Berichte über häusliche Gewalt, die weit häufiger ist, wesentlich distanzierter wahr und überträgt diese nicht auf seine eigene Lebenssituation."
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