Kunst aus Keramik

Nürnberg und seine "Pisskacheln": Herrentoilette an der Häuserfassade

Sebstian Gulden

29.9.2022, 09:58 Uhr
Der graue Fliesenspiegel im Parterre lässt dieses an sich schöne rosafarbene Reformstil-Mietshaus in der Südstadt aussehen wie eine angegrabbelte Leberwurst.  

© Boris Leuthold, NNZ Der graue Fliesenspiegel im Parterre lässt dieses an sich schöne rosafarbene Reformstil-Mietshaus in der Südstadt aussehen wie eine angegrabbelte Leberwurst.  

Werbefilme für Haushaltsreiniger und andere Blitzblank-Helferlein aus der Wirtschaftswunderzeit sind ja schon unterhaltsam, so als Zeitdokument. Bei all der peniblen Reinlichkeit kann man sich indes nicht so ganz des Eindrucks erwehren, dass da der Grat zwischen Drang und Zwang bisweilen ein äußerst schmaler war. Und leider hat sich der Sauberkeitsfimmel der Nachkriegsjahre oftmals nicht auf das Innere des trauten Heims beschränkt.

Dämmung druff!

Grundsätzlich darf man dem Deutschen beim Sanieren eine Vorliebe für das Verkleiden und Glätten attestieren. Vorstehender Bauschmuck? Schmutzfänger – ab damit und Putz drüber! Eine nackte Klinkerwand? Heizkostenfresser – Eternitplatten (heute müsste es heißen: Wärmedämmung aus Styropor) druff!

 Architekt Rudolf Böbel ließ das Erdgeschoss der Lindenaststraße 43 1959 mit einer zweifarbigen Zebra-Bänderung aus Fliesen versehen. Im Kontext mit der übrigen Fassadengestaltung ein durchaus gelungener Schachzug, handwerklich solide ausgeführt.

 Architekt Rudolf Böbel ließ das Erdgeschoss der Lindenaststraße 43 1959 mit einer zweifarbigen Zebra-Bänderung aus Fliesen versehen. Im Kontext mit der übrigen Fassadengestaltung ein durchaus gelungener Schachzug, handwerklich solide ausgeführt. © Sebastian Gulden, NNZ


Gesehen in der Nordstadt: Oben Neorenaissance - Schick, unten der Charme einer Großmetzgerei. Das Haus rechts zeigt, wie schön das Erdgeschoss heute noch sein könnte.   

Gesehen in der Nordstadt: Oben Neorenaissance - Schick, unten der Charme einer Großmetzgerei. Das Haus rechts zeigt, wie schön das Erdgeschoss heute noch sein könnte.    © Boris Leuthold, NNZ

Nächste Eskalationsstufe: die "Pisskachel", so genannt, weil die "verschönerten" Fassadenteile nach ein paar Jahren aussehen wie die Herrentoilette in der schäbigen Beitzn um die Ecke und weil Nachbars Wauwau dort besonders gern sein Beinchen hebt.

In endlosen Varianten verunziert die Keramikkachel, vorzugsweise geflammt in undefinierbaren Braun- und Schleimgrüntönen ("Tschitscheringrün") – seit den 1950er Jahren die Erdgeschosszone so manchen Altbaus. Später kam dann speziell für die besonders knickrigen Zeitgenossen die bedruckte Variante dazu. Die wurde dann gerne, weil’s billiger ist, in großen Formaten an die Wand gepappt.

So skurril, dass es schon wieder cool sein könnte. Leider ist die (nicht originale) Vollfliesung dieses Nachkriegsbaus in Glockenhof so misslungen, dass es nur scheußlich aussieht. 

So skurril, dass es schon wieder cool sein könnte. Leider ist die (nicht originale) Vollfliesung dieses Nachkriegsbaus in Glockenhof so misslungen, dass es nur scheußlich aussieht.  © Boris Leuthold, NNZ

Beim Haus Sulzbacher Straße 95 folgt die spacige Gestaltung der Ladenzone aus den 1970ern mit geflammten und teils ornamentierten Fliesen einem Gestaltungskonzept mit rotem Faden.

Beim Haus Sulzbacher Straße 95 folgt die spacige Gestaltung der Ladenzone aus den 1970ern mit geflammten und teils ornamentierten Fliesen einem Gestaltungskonzept mit rotem Faden. © Boris Leuthold, NNZ

Dass wir uns nicht falsch verstehen: Fliesen an Hausfassaden können ganz großes Tennis sein. Wer schon einmal Otto Wagners Majolikahaus in Wien (1898), die Casa Amatller von Josep Puig i Cadalfach in Barcelona (1900) oder die fantastischen Azulejos der Barockzeit in Portugal und Brasilien bestaunen durfte, weiß das.

Und dann muss man neidlos gestehen, dass auch Architekten und Künstler (!) der Nachkriegszeit es durchaus verstanden, Fliesen gewinnbringend im Außenbau anzuwenden. Allein, gut gemeint ist halt nicht zwangsläufig gut gemacht.

Wenig Geld, viel Eifer

Am Pisskachelwahn des deutschen Heimwerkers kann man nun trefflich vor Augen führen, dass Übereifer gepaart mit Unverstand die beste Idee ad absurdum führen kann. Vielleicht liegt das auch daran, dass die Motivation für den Kachelwahn nicht dem Interesse entspringt, sein Heim zu verschönern, sondern es auf Biegen und Brechen modern und effizient zu machen oder besser: es aus Mangel an Geld und Begabung so aussehen zu lassen.

Auch zur Wahrheit gehört freilich, dass man von glatten Fliesen ungewünschte Graffiti und tierische Hinterlassenschaften einfach besser abbekommt als von Putz oder porigem Sandstein.

Ich erinnere mich noch lebhaft an einen Herrn, der im Nachbarhaus unserer früheren Wohnung lebte. Jede Woche samstags lief der zu Höchstformen auf, wenn er, mit Putzlumpen und den wohl aggressivsten frei verkäuflichen Reinigungsmitteln bewaffnet, liebevoll die grauenvollen, bleckend-weißen Fliesen putzte, die das Erdgeschoss des Hauses zierten. Währenddessen vergammelte und verdreckte die schöne Altbaufassade darüber immer mehr.

Ein Träumchen der Wirtschaftswunder-Architektur ist die Ladenzone des Eckhauses Bleichstraße 2, geschaffen um 1960. Hier zeigt sich: Sogar schwarze Fliesen können am Außenbau richtig schick aussehen – wenn’s gut gemacht ist. 

Ein Träumchen der Wirtschaftswunder-Architektur ist die Ladenzone des Eckhauses Bleichstraße 2, geschaffen um 1960. Hier zeigt sich: Sogar schwarze Fliesen können am Außenbau richtig schick aussehen – wenn’s gut gemacht ist.  © Sebastian Gulden, NNZ

Ob es dafürsteht, seine Fassade, die ja auch Teil des öffentlichen Raumes ist, derart zu verschandeln, muss ein jeder Hausbesitzer für sich entscheiden. Gerade in letzter Zeit entscheiden sich immer mehr von ihnen dafür, es lieber schön als effizient zu haben – und verbannen Haus um Haus, Straße um Straße die olle Fassadenfliese dorthin, wohin sie gehört: auf den Müllhaufen der Architekturgeschichte. Unsere Positivbeispiele aus der Nachkriegszeit zeigen: Es bleiben auch dann noch genügend wirklich gelungene Fliesenfassaden übrig, für die es sich wirklich lohnt, jeden Samstag Putzeimer und Lappen in die Hand zu nehmen.

Diese Serie lädt zum Mitmachen ein. Haben Sie auch noch alte Fotos von Ansichten aus Nürnberg und der Region? Dann schicken Sie sie uns bitte zu. Wir machen ein aktuelles Foto und erzählen die Geschichte dazu. Per Post: Nürnberger Nachrichten/Nürnberger Zeitung, Lokalredaktion, Marienstraße 9, 90402 Nürnberg; per E-Mail: lokales@vnp.de

Noch viel mehr Artikel des Projekts "Nürnberg – Stadtbild im Wandel" mit spannenden Ansichten der Stadt und Hintergründen finden Sie unter www.nuernberg-und-so.de/thema/stadtbild-im-wandel oder www.facebook.com/nuernberg.stadtbildimwandel

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