Nürnbergs Polizisten geraten immer öfter in heikle Situationen
11.8.2018, 05:49 UhrEs war eine lebensbedrohliche Situation, in die Florian G. geriet. Der Vorfall ereignete sich im Mai 2017 in Nürnberg. Ein 34-Jähriger war aus einer psychiatrischen Klinik ausgebrochen. Der Mann sei gefährlich, hieß es über Funk. Eine Streife machte sich auf den Weg zur Wohnung des Gesuchten, den sie dort vermutete.
"Er war da. Die Kollegen versuchten durch die geschlossene Wohnungstüre Kontakt aufzunehmen", erzählt G. Doch eine Kommunikation kam nicht zustande. Die Einsatzkräfte hörten das typische, metallische Klirren, wenn eine Besteckschublade ruckartig aufgerissen wird. Die Polizisten traten die Türe ein - Gefahr in Verzug. "Wir waren in der Nähe und boten unsere Unterstützung an", sagt G.
Wenige Minuten später stand er mit seinem Kollegen in der Wohnung, die zwei anderen Beamten hielten den 34-Jährigen mit gezogenen Schusswaffen in Schach. "Er hielt ein langes Messer in der Hand. Es war zu befürchten, dass er gleich auf uns losgehen würde." Die Beamten redeten auf den Mann ein. Ohne Erfolg. "Er forderte uns vielmehr auf, ihn zu erschießen."
Die schützende Hand
Als der Verwirrte anfing, sich selbst zu verletzen, sprühten die Beamten Pfefferspray und wollten ihm mit dem Schlagstock das Messer aus der Hand schlagen. Doch der Mann hatte kein Schmerzempfinden, das Spray zeigte keine Wirkung. "Er lief dann ins nächste Zimmer, ich folgte ihm." Im Wohnzimmer wendete sich das Blatt: Der 34-Jährige griff G. an, stach mit dem Messer in die Richtung seines Gesichts - traf glücklicherweise nicht. "Ich hob schützend meinen Arm nach oben. Die weit aufgerissenen Augen des Mannes in diesem Moment werde ich nie vergessen."
Geistesgegenwärtig konnte G. sich aus der Lage befreien und dem Angreifer die Waffe aus der Hand schlagen. Die vier Beamten machten den Angreifer unschädlich und nahmen ihn fest. G. erlitt Schürfwunden und Prellungen. Er war dienstunfähig, hatte Probleme mit dem Rücken und war ein halbes Jahr lang in Behandlung. Heute ist er wieder voll einsatzfähig.
506 Fälle in Nürnberg
Eine offizielle Statistik, wie oft Einsatzkräfte mit psychisch kranken Menschen zu tun haben, führt das Polizeipräsidium Mittelfranken nicht. Da sich derartige Vorgänge aber "gefühlt" zu häufen scheinen, wollte es das Präsidium genauer wissen und ließ die Vorfälle auswerten. Alleine für Nürnberg kommt die Polizei im Jahr 2016 auf 506 Fälle, bestätigt Polizeisprecher Michael Petzold auf Anfrage (In ganz Mittelfranken waren es 2223 Vorgänge). 2017 bearbeiteten die Beamten in Nürnberg schon 529 Fälle (Mittelfranken: 2404).
Doch das sind nur nüchterne Zahlen. Sie verraten nichts über die Dramatik jedes einzelnen Falls. Weder darüber, was die betroffenen Täter bis zum Ausbruch ihrer Krankheit erlitten haben, noch, welcher Gefahr andere (Polizisten, Angehörige des Täters, zufällige Passanten) während der Eskalation ausgesetzt waren.
Kommt die Polizei ins Spiel, kann sie die Situation klären und gehen, wenn es kein Fall für sie ist. Oder sie bringt die Auffälligen in eine psychiatrische Klinik. Doch wenn sie gerufen wird, wissen die Beamten nicht, was sie tatsächlich erwartet. Sie sprechen mit dem Betroffenen, versuchen zu deeskalieren. Aber sie wissen nie sicher, ob der Angesprochene nicht doch gleich ein Messer zückt. Doch nicht immer sind verwirrte Menschen gefährlich. Häufig geht es um Vermisste, Hilflose, um jemanden, der hin und her läuft oder der auf offener Straße nur Selbstgespräche führt.
Axt-Angriff auf offener Straße
In jüngster Zeit haben einige Polizeieinsätze mit psychisch Kranken viel Aufsehen erregt: Im Oktober 2016 nimmt die Polizei einen Nürnberger fest, der plante, Menschen zu verspeisen; im April 2016 bedrohte ein 38-Jähriger in Herpersdorf eine Frau auf offener Straße mit einer Axt; im Januar 2016 stürmte ein 48-Jähriger in Langwasser mit einem Messer auf Polizeibeamte los, sie konnten den Angriff abwehren; im März 2017 bedrohte ein 33-Jähriger in der Frauenkirche Besucher mit einem Messer und wurde kurz darauf festgenommen; im Juli 2017 ging eine 49-Jährige in einem Haus am Hummelsteiner Weg mit einem Hammer auf Mitbewohner los; im März 2018 griff ein Verwirrter in St. Johannis Polizeibeamte mit einem Jagdmesser an, die Einsatzkräfte blieben unverletzt.
Ob sich Polizist Florian G. nach dieser Grenzerfahrung bei der Berufswahl wieder für den Polizeidienst entscheiden würde? "Jederzeit wieder", sagt der 27-Jährige. Denn die schönen Einsätze gebe es auch. Etwa als er wegen Ruhestörung gerufen wurde, weil in der Früh um 4 Uhr ein Fernseher aus einer Wohnung dröhnte. "Wir kletterten über einen Balkon und schauten ins Fenster. Da lag eine Frau auf dem Boden." Wie sich herausstellte, hatte die alleinstehende Frau die Lautstärke hochgedreht, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie hatte einen Schlaganfall erlitten. Florian G. und sein Kollege konnten sie retten.
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