Obdachlos in Nürnberg: Ein Leben ganz unten

Irini Paul

NN-Lokales

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31.10.2020, 06:05 Uhr
Am Boden: In Nürnberg gelten etwa 2300 Menschen als obdachlos. Bei den meisten ist es allerdings nicht so offensichtlich, wie hier. Foto: dpa

© picture alliance/dpa Am Boden: In Nürnberg gelten etwa 2300 Menschen als obdachlos. Bei den meisten ist es allerdings nicht so offensichtlich, wie hier. Foto: dpa

Wer wohnungslos ist, dem muss man das nicht auf den ersten Blick ansehen. Denn das Problem ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen, wie Thomas Heinze in seiner täglichen Arbeit erlebt. Der Diakon leitet die Beratungsstelle "Hilfe für Menschen in Wohnungsnot" der Stadtmission Nürnberg und weiß, dass es heute nicht nur arbeitslose Menschen oder Niedrigverdiener trifft. Schuld sind vor allem der knapp gewordene bezahlbare Wohnraum, steigende Mieten, Sozialwohnungen, die aus der Bindung fallen. Und: Nürnberg ist eine wachsende Stadt. Das alles hat die Wohnungsmarktlage in vielen Großstädten verschärft. Die dramatische Entwicklung lässt sich gut an der Arbeit der Beratungsstelle der Stadtmission festmachen.

Als sie vor 75 Jahren als "Evangelisches Hilfswerk", wie es damals noch hieß, mit seiner Beratungsstelle an den Start ging, lag Nürnberg in Trümmern. Tausende von Menschen waren ohne Bleibe – unabhängig ihrer gesellschaftlichen Schicht. Damals halfen die Helfer schlicht beim Überleben: Sie versorgten die Menschen mit Lebensmitteln, Kleidung und Sachspenden.

Erst später kam die "Beratung und Betreuung armer Familien, nicht sesshafter und obdachloser Menschen" hinzu. Später waren es vor allem Strafentlassene, um die sich die Beratungsstelle in den 1960er Jahren kümmerte. Längst gehören das "Betreute Wohnen für Frauen" und das "Betreute Wohnen für wohnungslose, psychisch kranke Menschen" zum breiten Arbeitsfeld in der Wohnungslosenhilfe.

Zahlen steigen

Kein Wunder, dass sich das Team der Wohnungslosenhilfe bei der Stadtmission seit den 90er Jahren versiebenfacht hat. Heute kümmert sich ein 17-köpfiges Team um die überwiegend männliche Klientel. 500 Menschen waren es allein im vergangenen Jahr. Denn es werden immer mehr, die vom Wohnungsmarkt fliegen. Zum Vergleich: Im Jahr 2014 wurden in Nürnberg 1550 Menschen als obdachlos registriert. Nur fünf Jahre später waren es etwa 2300 Menschen - eine Entwicklung, die dem bundesweiten Trend entspricht. Doch die wenigsten leben tatsächlich auf der Straße – Schätzungen zufolge sind es 50 bis 80 Menschen.

Wer keine Chance auf dem ersten Wohnungsmarkt hat, der bleibt länger in Obdachlosenpensionen und Notunterkünften. Das System stößt an seine Grenzen. Foto: dpa

Wer keine Chance auf dem ersten Wohnungsmarkt hat, der bleibt länger in Obdachlosenpensionen und Notunterkünften. Das System stößt an seine Grenzen. Foto: dpa © picture alliance / dpa

Denn auf der Straße leben muss niemand, da die Stadt verpflichtet ist, wohnungslose Menschen "ordnungsrechtlich" unterzubringen. In Pensionen, Wohnung, Notunterkünften. Es ist ein Dach über dem Kopf - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dabei müssen Menschen ohne eigene Wohnung viel mehr entbehren. "Man lebt ohne geschützten Rückzugsort, ohne Privatsphäre, ohne einen Ort der Selbstbestimmung. Letztlich das, was andere Zuhause nennen", sagt Heinze.

Eine Trennung, Arbeitslosigkeit, Krankheit, eine persönliche Krise - dann der Absturz in die Obdachlosigkeit. Der Weg nach unten kann schnell gehen. Die einen kämpfen mit einer Sucht, andere mit Schulden oder psychischen Problemen – viele mit mehr als nur einem Problem. Auch deshalb sind es Sozialpädagogen, die sich um die Betroffenen kümmern - in der Beratungsstelle, in Obdachlosenpensionen und in den 40 betreuten Wohnungen der Stadtmission. Und das zunehmend länger, denn der angespannte Wohnungsmarkt kommt ganz unten an – wer einmal obdachlos ist, der hat kaum Chancen, auf dem ersten Wohnungsmarkt zum Zuge zu kommen.

Lange Verweildauer

Mit der Folge, dass die Betroffenen in den Pensionen und den Notunterkünften erheblich länger bleiben, wie auch das Sozialamt seit Jahren beklagen muss. Auch die Notunterkünfte sind längst nicht mehr nur im Winter, sondern auch während der warmen Sommermonate gut besucht. Eine Beobachtung, die auch Heinze macht: "Aus Sleep-Ins für Wohnungslose sind Dauerpensionen geworden". Auch Hilfesuchende, die in Übergangswohnungen der Stadtmission einzögen, blieben heute länger. Waren es früher ein oder zwei Jahre, so bleiben die Betroffenen inzwischen drei bis vier Jahre, "bis sich überhaupt einmal eine Chance auf einen eigenen Mietvertrag für sie auftut." Wenn denn überhaupt.


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Und ein weiteres Problem tut sich inzwischen auf: Die Betroffenen werden immer älter. Allein in den beiden Obdachlosenpensionen in der Pirckheimer- und in der Raabstraße, die von der Stadtmission betreut werden, sind die meisten zwischen 51 und 60 Jahren alt, während die Zahl der über 60-jährigen Schlafgäste am stärksten wächst. Zur materiellen und sozialen Not kommt nun auch die Gebrechlichkeit. Das Thema Pflegebedürftigkeit ist längst in den Einrichtungen angekommen. Doch spezielle Angebote für wohnungslose und dabei eigentlich pflegebedürftige Menschen gibt es nicht. "In Würde alt werden, ohne Zuhause, in voll ausgelasteten Obdachlosenpensionen, das funktioniert nicht", sagt Heinze.

Doch so lange gerade kleine Wohnungen eine beliebte Anlageform bei niedrigem Zinssatz bleiben, fehlen Wohnungen für die, die wenig haben. Inzwischen fordert die Stadt zwar von Bauträgern, bei größeren Bauvorhaben 30 Prozent Sozialwohnungen zu schaffen. Die Unterkünfte bleiben dennoch voll – mit den sich daraus ergebenden Problemen. Daher fordert Heinze nicht nur erschwingliche Wohnungen, sondern "auch progressive und spezialisierte Angebote". Das Recht auf Wohnen sei ein Menschenrecht, der Schutz der Menschenwürde ist ein Grundrecht. "Mit einem trockenen Bett zum Schlafen allein ist das nicht gemacht."

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