Mensch der Woche
Offener Umgang mit Behinderungen: Nürnbergerin ist "Disability Influencerin"
26.9.2021, 08:45 UhrDunkle Haarmähne, lebhafte Augen: Verena Hecht ist ein quirliger Typ. Die 30-jährige liebt Sprachen und möchte Schauspielerin werden. Sie hat große Pläne, spürbar viel Energie - und Multiple Sklerose. Mit 23 Jahren bekam sie die Diagnose. Und beschloss sehr schnell, offen damit umzugehen. Besser gesagt öffentlich. In den sozialen Medien berichtet sie auf der Plattform Instagram regelmäßig aus ihrem Leben und von ihrer Krankheit. „Darüber zu reden, tut mir gut“, sagt die Nürnbergerin. Es gibt einen Begriff dafür aus dem Englischen: "Disability Influencerin". Menschen, die in den sozialen Medien über ihre Krankheit sprechen, sie sichtbar machen machen, Medikamente und Hilfsmittel testen oder empfehlen.
Nürnbergerin kämpft bei "Miss Germany" gegen Diskriminierung
Als sie die Diagnose vor sieben Jahren bekam, suchte sie im Netz, auf YouTube und anderen Plattformen Menschen, denen es ähnlich geht wie ihr, die erzählen, welche Medikamente sie nehmen, wie sie mit der Krankheit umgehen. „Da habe ich nicht sehr viel gefunden“, sagt sie. Es war der Moment, in dem sie beschloss, selbst einen Austausch zu beginnen. „Weil man sich gegenseitig weiterhelfen kann.“ Mit Ratschlägen – größeren oder kleineren, praktischen Tipps. Sie selbst schleppte immer sieben Medikamenten-Packungen mit sich herum, bis ihr jemand riet, sich doch einfach ein Pillendöschen zuzulegen.
Kribbeln in den Händen und Schwindel
Es geht ihr aber auch um einen größeren Zusammenhang. Über ihre Krankheit zu sprechen sei „immer noch ein bisschen ein Tabu-Thema." Viele wissen auch zu wenig, um was es sich bei der neuronalen Erkrankung eigentlich handelt. „Ich musste es den Leuten immer wieder von Neuem erklären“, erzählt sie. Sie möchte online deshalb auch Aufklärung betreiben über die Krankheit, die bei jedem sehr individuell verläuft.
Mit einem Kribbeln in Händen und Füßen und Schwindelgefühlen hatte es bei Hecht begonnen. „Ich dachte, ich hab’ mir einen Nerv eingeklemmt“, sagt sie. Nach einem Ärztemarathon brachte dann die Kernspintomografie (MRT) das Ergebnis: Multiple Sklerose, kurz MS. Eine chronische Autoimmunerkrankung, die unheilbar ist und bei der die Nervenstrukturen zerstört werden. Zwei Jahre nach dem ersten Schub kam dann der zweite - der sie damals ihr Studium der Amerikanistik und Theater- und Medienwissenschaften an der Universität Erlagen-Nürnberg abbrechen ließ. „Ich war erst mal damit beschäftigt, dass es mir gut geht. Das war ein Vollzeitjob."
Leben komplett umgestellt
Dass es ihr heute relativ gut geht, sei ein ganzes Stück Arbeit gewesen. Sie stellte ihre Lebensweise um und lebt so gesund wie möglich: Sie raucht nicht, trinkt keinen Alkohol, ernährt sich vegan und macht Sport. Auch diese Umstellung musste sie erst einmal erklären. „Einige meiner Freunde dachten, ich wäre jetzt plötzlich super spießig geworden“, erzählt sie. Schließlich ist Anfang Zwanzig Weggehen und Feiern angesagt. Wer da kürzer tritt, wird erstmal schief angeschaut.
Drei Jahre in Los Angeles gelebt
An ihren Plänen hielt und hält die zierliche Fränkin trotzdem fest: Drei Jahre lang hat sie in Los Angeles Schauspiel studiert, auch mittels eines kleinen Stipendiums. Weil sie die Sprache inzwischen perfekt beherrscht, arbeitet sie ab und zu als Übersetzerin. Schauspielerin zu werden, ist ihr großer Traum. „In den Medien wie Film und Fernsehen sind Menschen mit Behinderungen unterrepräsentiert. Dafür möchte ich mich stark machen“, sagt sie. Filmrollen mit Behinderungen würden oft von nichtbehinderten Schauspielern gespielt, weil es weniger Aufwand für die Produktion ist. „Das ist eine Klatsche für Menschen mit Behinderung“, sagt Hecht. Serien wie „L-Word“, in deren neue Staffel Jillian Mercado, Schauspielerin und Model im Rollstuhl, mitspielt, seien dagegen gute Beispiele.
"Ich finde, es läuft gut!" Lebensfreude trotz Multipler Sklerose
Oft würde in Film und Fernsehen auch ein überinspirierendes Bild gezeichnet. Der Rolli-Fahrer, der extrem viel leistet und alles schafft. „Das schafft eine Erwartungshaltung. So als ob wir nur eine Daseinsberechtigung hätten, wenn wir andere Leute inspirieren“, sagt Hecht. „Aber wir leben auch nur unser Leben wie alle anderen. Und wir interessieren uns für denselben Quatsch wie alle anderen“, sagt sie und lacht. Behinderte sind keine Menschen vom anderen Stern. Sie haben nur ein Handicap.
Um zu zeigen, dass trotzdem einiges möglich ist, hat sie sich kürzlich zur Wahl für die „Miss Nürnberg“ beworben - und es unter die Finalistinnen geschafft. „Ich wollte zeigen, dass Menschen mit chronischen Krankheiten und Behinderung bei so etwas mitmachen können.“ Bei der Vorstellung auf der Bühne sprach sie auch ihre Krankheit an. „Es kamen danach einige Leute zu mir und sagten, dass sie es toll finden, dass ich so öffentlich darüber spreche.“ Auch wenn sie am Ende bei der Wahl nicht gewonnen hat, hat sie doch etwas gewonnen: ein Stück Selbstbewusstsein mehr für sich und Menschen in ähnlicher Lage.