Fassaden im Nibelungenviertel
Promenade des Jugendstils: An der Wodanstraße zogen Architekten beim Dekor alle Register
8.8.2023, 19:00 UhrDie beiden Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg waren auch in Nürnberg eine Epoche des Booms. An allen Ecken und Enden wurde gebaut. Dabei ging es nicht nur ums Wohnraumschaffen und ums Geldverdienen, sondern auch darum, die neuen Stadtquartiere würdig zu gestalten.
Geometrische Formen, wild sprießende Blattranken mit energischem Peitschenschwung, gaffende Maskarons – ein Fratzenkopf als Schlussstein – und pausbäckige Putten, ein Giebelfenster gleich einem aufgerissenen Flunsch, Wappen und festliche Blütengirlanden, all das fand man einst an den Fassaden der Häuser Wodanstraße 57 bis 65 bis zum Eckhaus Nibelungenstraße 28. Die fantastische Welt des Jugendstils mit ihrem Hang zum Anarchischen, zum Morbiden und zu den Formen der Natur, sie fand ihren Weg um 1900 auch nach Nürnberg.
Auf besonders fruchtbaren Boden fielen ihre Ideen in der Wodanstraße, jener großen Verkehrsachse, die die Stadt 1902 durch das einstige Ackerland im Nürnberger Süden trassierte. Binnen weniger Jahre waren alle Grundstücke an ihren Rändern verkauft, und bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs war die Bebauung zwischen der Allersberger Straße und dem heutigen Platz der Opfer des Faschismus (ehemals Wodanplatz) weitgehend geschlossen.
Malerisch geschmückt
All die wunderbaren Fassaden der rund 750 Meter langen Straße zu zeigen, würde einen Bildband füllen. Wir haben uns die Häuserzeile Nr. 57-65 mit dem Eckhaus Nibelungenstraße 28 ausgesucht, die alle zwischen 1903 und 1906 erbaut wurden.
Heute, da serielle Lösungen und "Corporate Architecture" im Wohnungsbau ihren festen Platz haben, ist es nur noch schwer vorstellbar, dass die Vielfalt an Fassadengestaltungen allein auf dieser kurzen Wegstrecke wahrscheinlich den Hirnen von nur zwei Baukünstlern entsprungen sind. Das Prinzip der "variatio delectat" (zu Deutsch etwa: "Abwechslung macht Freude"), das der Historismus des 19. Jahrhunderts kultivierte, lebte auch in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg fort.
Keine luxuriösen Mietspaläste
Jedes Haus einer Gruppe sollte als Einzelstück wirken, auch und insbesondere dann, wenn es sich an städtebaulich sensibler Stelle befand. Maurermeister Konrad Schrödel (Wodanstraße 57-63) und Architekt Karl Schultheiß (Wodanstraße 65 und Nibelungenstraße 28) meisterten diese Aufgabe, indem sie den eher traditionellen Grundrissen reich dekorierte Fassaden mit auflockernden Elementen wie Erkern, Balkonen und geschwungenen Giebeln gaben.
Die Erdgeschosszonen setzten sie – ganz den Lehren der Renaissance folgend – durch massives Sandsteinmauerwerk zur Straße von den verputzten und farbig gestrichenen Obergeschossen ab. Hier durften sich die Stuckateure – gleichwohl nach groben Vorgaben der Entwurfsverfasser – mit geometrischen Ornamenten, figürlichen und floralen Reliefs nach Herzenslust austoben.
Wie die alten Ansichten der Häuser Wodanstraße 61 und 63 zeigen, war die Dekoration keineswegs beliebiges Aufhübschen der Gebäudehülle, sondern folgte einer durchdachten Planung, die berechnete, wo es zusätzlicher Zierde und wo einer freien Putz- oder Sandsteinfläche bedurfte, um harmonisch zu wirken. Durch das Zusammenspiel von malerischer Kubatur und bereicherndem Reliefschmuck wirkte ein jeder Bau der Gruppe einem majestätischen Stadtpalais gleich.
Dabei waren die Wohnungen im Inneren weit entfernt vom Luxus der Mietspaläste am Laufertorgraben oder der Frommannstraße im Stadtnorden. Jedes Haus enthielt pro Etage zwei bis drei solide Wohneinheiten, das besonders raumgreifende Eckhaus Nibelungenstraße 28 gleich vier, und nur die schmale Nr. 63a hielt Etagenwohnungen bereit. Immerhin, die unseligen Etagenklosetts waren zur Bauzeit passé.
Liebloser Umgang in der Nachkriegszeit
Heute muss der Passant schon etwas Fantasie oder unsere historischen Aufnahmen mitbringen, um sich vorzustellen, wie reich die Fassaden einst gestaltet waren. Der Zweite Weltkrieg, aber auch der – freundlich gesagt – fragwürdige Umgang der Nachkriegsjahre mit dem baulichen Erbe der Kaiserzeit haben dazu geführt, dass vieles, was sich einfach entfernen ließ, auch entfernt wurde.
Nur die Häuser Wodanstraße 65 und Nibelungenstraße 28 sind weitgehend ungeschoren davongekommen. Ob im Einzelfall Schäden an der Fassade, die Knickrigkeit und die mangelnden finanziellen Mittel der Hauseigentümer oder aber die Geschäftstüchtigkeit einiger Maler- und Putzerfirmen dafür verantwortlich waren, vermögen wir nicht zu sagen. Jedenfalls lehrt uns die Häusergruppe an der Wodan- und Nibelungenstraße, dass es nicht immer eine gute Idee ist, der Mode der Zeit zu folgen, und dass man mit einem Hammer, etwas Putz und Farbe aus einem Alt- keinen Neubau machen kann.
Immerhin: Die Grundformen der Häuser sind überall erhalten und machen die Gebäude bis heute zu stolzen und wichtigen Teilen einer ganz besonderen Straße der Nürnberger Südstadt, die den Namen "Promenade" vollauf verdient hätte.
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