Fall 20 von "Freude für alle"

So lebt es sich als Analphabetin: Rentnerin will in Nürnberg endlich Lesen und Schreiben lernen

2.12.2024, 17:00 Uhr
Teresa G. (Name geändert) ist Analphabetin und auch deshalb von Altersarmut betroffen.

© Wolfgang Heilig-Achneck Teresa G. (Name geändert) ist Analphabetin und auch deshalb von Altersarmut betroffen.

Da sind Linien mit einem oder zwei Zacken, Halbkreise, eine Art Schlange und verbundene Striche. Was aber bedeuten diese Formen - und wie lassen sie sich im Hirn speichern? Buchstaben zu verstehen und sich einzuprägen, ist Teresa G. (Name geändert) im Kindesalter einfach nicht gelungen: Sie ist in den 1950er-Jahren aufgewachsen, ohne wirklich lesen und schreiben zu lernen. So musste sie sich später stets mit den allereinfachsten Jobs begnügen. Und blieb, mehr gefangen als versorgt in einer Partnerschaft, lange ohne eigenes Einkommen. Was in Kombination geradewegs in die Altersarmut führte.

Lange konnte Teresa G. bloß ihren Namen schreiben, und auch das wirkte mehr gekritzelt als mit sicherer Hand notiert. Was auf Schildern und Tafeln oder selbst wichtigen Briefen stand - alles blieb ihr fremd und ein Rätsel. Mal ein Fernsehprogramm studieren oder gar einen Beipackzettel von Medikamenten, war nie drin. Fast bis heute. Denn seit ein paar Jahren bemüht sich Teresa G., längst im Rentenalter, endlich doch noch Fuß zu fassen in der Welt der geschriebenen Sprache: Woche für Woche macht sie sich auf ins Nürnberger Bildungszentrum, um einen Alpha(betisierungs)kurs für Erwachsene zu besuchen. Dort trifft sie Menschen mit ähnlichem Schicksal - und davon gibt es weit mehr als gemeinhin angenommen, weiß Kursleiter Sascha Dawidat.

So motiviert die Seniorin auch ist, das Lernen bleibt doch schier unendlich mühsam. "Immerhin kann ich inzwischen auf Anzeigetafeln der Straßenbahn oder am Bahnhof wenigstens das Ziel erkennen, damit ich weiß, ob ich einsteigen soll oder nicht", nennt sie einen konkreten Erfolg. Etliche Alltagswörter sind ihr nun auch vertraut. Fleißig übt sie zum Beispiel mit Bild- und Buchstabenkärtchen: Was auf der Vorderseite abgebildet ist, versteht sie natürlich sofort. Dann muss sie sich konzentrieren: Mit welchem Buchstaben beginnen Begriffe wie Topf, Gurke, Besen oder Ampel? Zur Kontrolle dreht sie das Kärtchen um und macht sich daran, das ganze Wort zu schreiben.

Teresa G. konnte im Supermarkt keine Sonderangebote erkennen

Dass sie nicht aufgibt, ist vermutlich auch ihrem Dozenten zu verdanken. Der bringt neben großem Einfühlungsvermögen vor allem eine Engelsgeduld mit. Und versucht, Zusammenhänge als "Eselsbrücken" herzustellen, mal klanglich, mal sachlich. Etwa mit den Wortfeldern für Obst, Gemüse oder andere Produkte, um die es beim täglichen Einkauf geht. "Das ist schon wichtig, um zum Beispiel Sonderangebote zu erkennen", sagt sie.

Wie aber hatte es die heute über 70-Jährige überhaupt geschafft, sich so elend lange als Analphabetin durchzuschlagen? "Meine Eltern haben sich damals nicht darum gekümmert", erzählt G., "und in der Schule waren die Klassen damals viel größer als heute; meine Lehrer haben sich nie richtig um mich gekümmert". So hat sie die reguläre Schulpflicht nie erfüllt, damit war auch der Weg in eine Berufsausbildung versperrt. Ihr blieben nur die simpelsten Hilfsjobs, mal in einer Fabrik, dann lange in Haushalten.

Freilich entwickelte auch Teresa G. Tricks und Strategien, um ihre Schwäche schamhaft zu verbergen und zu überspielen. "Darum kümmere ich mich später", ist eine der Ausreden. Oder: "Können Sie mir das eben vorlesen, ich habe leider meine Brille vergessen". Ihr bewegtes Leben war aber auch von noch weit schmerzhafteren Erfahrungen geprägt. Die unter anderem auch dazu führten, dass sie in einem Frauenhaus Zuflucht suchen musste. Und nach dem Aufenthalt dort zum Umzug in eine vollkommen fremde Umgebung genötigt war, um Ruhe und Schutz zu finden.

Selbst das Geld für Fahrkarten fehlt

Die Not aber blieb: Allein schon die Kursgebühren aufzubringen und das Geld für die Fahrkarten aus dem Umland in die Stadt ist für Teresa G. jedes Mal ein Kraftakt. An ihrem Beispiel bittet die Weihnachtsaktion um Unterstützung für Menschen, die sich selbst kleine Annehmlichkeiten wie einen Besuch im Café oder Kino versagen müssen – und ausgeschlossen bleiben, wo Lesen und Schreiben unabdingbar sind. Und das ist in der heute ganz aufs Internet abgestimmten Welt womöglich noch schlimmer als früher.

So können Sie spenden

Die Spendenaktion „Freude für alle“ des Verlags Nürnberger Presse (VNP) unterstützt seit über 50 Jahren bedürftige Alleinstehende und Familien in unserer Region. Dafür stellen wir in der Vorweihnachtszeit beispielhafte Einzelschicksale vor. Helfen auch Sie mit einer Spende!

  • Hier können Sie über Paypal spenden
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  • Konto bei Sparkasse Erlangen: IBAN: DE 28 7635 0000 0000 0639 99

Spendenquittungen stellen wir ab 300 Euro aus, bitte hierfür die vollständige Adresse hinterlassen.

Möchten Sie gezielt für ein in der Vorweihnachtszeit vorgestelltes Einzelschicksal sowie vergleichbare Fälle spenden, nennen Sie bitte im Verwendungszweck die entsprechende Fallnummer.

Wenn Sie im Überweisungszweck das Stichwort "Veröffentlichung" angeben, werden wir Ihren Namen, Ihren Wohnort und die Spendensumme in den gedruckten Zeitungen und E-Paper-Ausgaben des VNP veröffentlichen. Sie haben die Möglichkeit, Ihre Einwilligung gem. Art. 6 Abs. 1 S. 1 lit. a DSGVO für diese Veröffentlichung für die Zukunft zu widerrufen.

Weitere Informationen zum Datenschutz und Antworten auf häufige Fragen zu unserer Weihnachtsaktion „Freude für alle“ finden Sie unter www.vnp.de/ffa

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