Glücksfall für die Forschung

Über 700 Tote mitten in Nürnberg: Was nun auf dem Gelände des historischen Pestfriedhofs passiert

Verena Gerbeth

nordbayern.de

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20.2.2024, 14:40 Uhr

"Wir graben hier keine Schätze aus, wir graben Wissen aus", sagt Melanie Langbein, Nürnbergs leitende Stadtarchäologin. Neben ihr legen Mitarbeiter mit kleinen Spachteln und Pinseln zahlreiche Knochen und Schädel frei. Die Überreste der Pestopfer auf dem 17. Jahrhundert wurden nicht aufwendig bestattet, sie liegen eng an eng, Kinder zwischen die Erwachsenen gezwängt. Es sind Frauen und Männer jeden Alters unter ihnen. Daneben auch Reste von Leinentüchern, Münzen oder Knöpfe.

Hier im nördlichen Stadtteil St. Johannis, auf einer Fläche von fast 6000 Quadratmetern, wollte das Immobilienunternehmen wbg eigentlich im Frühling mit den Hochbauarbeiten eines neuen Pflegeheims beginnen. Doch bereits im Spätsommer 2023 war klar: Die Planungen müssen sich verschieben. Bei den vorbereitenden Erdarbeiten wurde einer der größten Pestfriedhöfe Europas gefunden. Mittlerweile konnte das Team um Chefanthropologe Florian Melzer 700 Tote ausmachen. Die Zahl wächst fast täglich. Das Team arbeitet derzeit am dritten von insgesamt acht Massengräbern auf dem Gelände. Laut Melanie Langbein war der Bereich nahe des Sebastianspitals bereits als Verdachtsfläche gekennzeichnet. "Die Ausmaße haben uns in jedem Fall sehr überrascht", so Langbein. Alles weise darauf hin, dass es sich um die Opfer einer Pestwelle in Nürnberg aus den Jahren 1632 und 1633 handelt.

Nun heißt es: Erdschicht für Erdschicht vorsichtig abtragen, die Überreste freilegen, alles genau dokumentieren und die Gebeine in Kisten verpacken. Sie sollen später im Stadtarchiv gelagert werden. Für die Forschung ist es ein Glücksfall: Der breite Querschnitt der Bevölkerung und die Masse an Überresten bieten eine Fülle an Informationen über das Leben der Nürnbergerinnen und Nürnberger aus dieser Zeit. Und über ihre Krankheiten. Laut Langbein steht nun eine Zusammenarbeit mit dem Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie an: Es werden Proben, gerade aus den erhaltenen Backenzähnen, nach Leipzig verschickt. Die Forscher versprechen sich daraus Kenntnisse über die historische Entwicklung der Pesterreger.

Nürnbergs Oberbürgermeister Marcus König stellt klar: "Es ist wichtig, dass wir das sichern und einen würdevollen Umgang damit finden", schließlich handle es sich um hunderte Nürnbergerinnen und Nürnberger, die aufgrund des Schwarzen Tods hier ihre letzte Ruhestätte finden sollten. "Wir werden uns mit der wbg zusammensetzen und Überlegungen anstellen. Es ist wichtig, dass dies auch ein Ort der Geschichte sein wird", so König bei einem Besuch des historischen Pestfriedhofs.

Der Betreiber NürnbergStift wird wohl dennoch 2026 auf das Gelände, auf dem auch Seniorenwohnungen entstehen sollen, einziehen. "Das war geplant und das werden wir auch umsetzen", sagt Geschäftsführer der wbg, Ralf Schekira. Das Budget von rund 55 Millionen Euro und die Zeitplanung habe er im Hinterkopf. "Wir werden nun versuchen, das Beste aus der Situation zu machen", gibt er sich zuversichtlich. Schon bald sollen die Bauarbeiten parallel zu den Ausgrabungen fortgesetzt werden. Allerdings sei die weitere Entwicklung jedoch noch völlig offen, gibt Stadtarchäologin Langbein zu. "Bis Ostern werden sich die Bauarbeiten mindestens noch verzögern", sagt sie.

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