Ungeahnte Einblicke: So funktioniert 3D-Technik am Tatort

25.11.2018, 05:35 Uhr
Ein Tatort im virtuellen Raum: Ermittler können in den rekonstruierten Tatort eintauchen. Den Beteiligten ist es möglich, außergewöhnliche Perspektiven einzunehmen, sie können etwa den Schuss aus einer Waffe nachvollziehen.

© Montage: LKA Ein Tatort im virtuellen Raum: Ermittler können in den rekonstruierten Tatort eintauchen. Den Beteiligten ist es möglich, außergewöhnliche Perspektiven einzunehmen, sie können etwa den Schuss aus einer Waffe nachvollziehen.

Eintauchen in eine andere Welt, um der eigenen zu entfliehen. In Büchern und PC-Spielen findet man die Ersatzwelten. Doch darum geht es hier nicht, im abgedunkelten Fotostudio des Bayerischen Landeskriminalamtes (LKA) in München. Harte Arbeit wartet auf Ermittler, die in diese virtuellen Räume eintauchen. Und die stammen aus der Realität.

Denn es sind echte Tatorte, an denen meist viel Blut vergossen wurde. Orte im Freien, in Wohnungen und Gebäuden, Orte an denen Brände gelegt, Bomben gezündet oder Menschen getötet wurden. So wie dieser: Eine Küche, in der es ein Gemetzel gegeben hat, Blutlachen am Boden, Blutspritzer an Wänden und Möbeln. Regale, Küchengeräte und mehr sind verkohlt — glücklicherweise ist es noch nicht möglich, Gerüche vom Tatort in der "Zentralen Fototechnik" (ZFT) im LKA zu produzieren. Auf dem Boden liegt eine männliche Leiche, ein Schuh steht daneben. Eine zerbrochene Schnapsflasche auf dem Esstisch, auf der Arbeitsplatte steht ein Nutella-Glas, liegen Messer und andere Dinge.

Relikte: Maßband und Kreide

Mit der Virtual-Reality-Brille auf dem Kopf betritt der Ermittler jetzt Neuland. Per Knopfdruck lassen sich die Gegenstände am Tatort anfassen und verschieben. Er geht durch den Raum, nimmt unterschiedliche Perspektiven ein: die des Opfers, des Täters oder die eines Zeugen. "So lassen sich etwa Widersprüche in den Aussagen bei einer Vernehmung aufdecken oder auch klären", sagt Ralf Breker. Der 45-Jährige ist kein Polizist, er ist Diplom-Ingenieur für Geomedientechnik und leitet die ZFT.

Mit seinem Team rückt er aus, wenn es nach einem Kapitaldelikt angefordert wird. Dann wird der echte Tatort mit Lasertechnik ausgemessen, um später daraus einen erfahrbaren, virtuellen Raum zu schaffen. Maßband und die Kreide, um einen Tatort auszumessen, sind für ihn Relikte. Jährlich erfasst der Ingenieur mit seinem Spezialequipment rund 60 Tatorte in Bayern und über die Grenzen des Freistaates hinaus. Es sind Orte des Grauens, die er ausmisst. Etwa das Waldstück bei Augsburg 2011, in dem zwei Brüder einen Polizeibeamten mit Schüssen aus Schnellfeuerwaffen töteten. Unzählige Hülsen und Projektile mussten gesichert werden. Der Waldboden war weitläufig damit übersät, mittendrin im Chaos steht das Polizeiauto der angegriffenen Streife.

Beihilfe zum 170.000-fachen Mord

Breker erstellte auch ein Modell des KZs Auschwitz. Die detailgetreue 3 D-Datei kam im Juni 2016 im Prozess gegen den SS-Wachmann Reinhold Hanning zum Einsatz. Die Anklage vor dem Landgericht Detmold warf ihm Beihilfe zum 170.000-fachen Mord vor. Das Modell hatte zwar nicht das Gewicht eines Beweises, doch das Gericht gewann etwa Erkenntnis darüber, dass der Mann vom Wachturm die Krematorien des Konzentrationslagers sehen konnte.

Mit 3D-Brille und Controllern in den Händen, kann man sich durch den virtuellen Tatort tasten.

Mit 3D-Brille und Controllern in den Händen, kann man sich durch den virtuellen Tatort tasten. © LKA

In den vergangenen Jahren scannte er auch grausige Plätze in Nürnberg. 2014 hielten die Spezialisten des LKA einen Bereich der Südwesttangente per Laser fest. Hier feuerte ein Schütze von seinem Penthouse aus mit einer Luftdruckwaffe auf vorbeifahrende Autos. Es ging darum, nachzuvollziehen, von welcher Position aus der Mann geschossen und wohin er tatsächlich gezielt hat.

Brekers erster Einsatz in Nürnberg war im Jahr 2011. Er scannte damals einen Tatort in der Rothenburger Straße. Zwei Brüder ermordeten in einem Lotto-Laden die Chefin des Geschäfts. Die Täter waren am Karsamstag mit einem Taxi zum Zeitungsgeschäft gefahren. Als die arglose Inhaberin die Ladentüre öffnete, wurde sie niedergeschlagen. Die Täter fesselten sie mit Klebeband und erwürgten ihr Opfer. Und das für eine Beute von 100 Stangen und 377 Einzelpackungen Zigaretten.

Tatort existiert weiter

Vier Tage später tastete das Lasergerät Millimeter für Millimeter des Lotto-Ladens ab: Regale, Zeitungsständer, Wände, Boden, Türen, Decke. Aus der Menge an Daten haben die Fachleute einen virtuellen Raum mit all seinen Details geschaffen. Sie haben den Tatort für die Ermittlungen sozusagen eingefroren. Selbst wenn das komplette Haus einmal abgerissen werden sollte, der Tatort existiert weiter.

Seit gut acht Jahren setzt das LKA auf Verlangen von Staatsanwaltschaften und Kripo dieses System ein und analysiert den Tathergang auf dem Monitor, per Maus tasten sich die Ermittler durch den Tatort. Das Verfahren wird aber nach und nach weiterentwickelt. Seit etwa drei Jahren ist es durch die 3 D-Brille möglich, in die Räume einzutauchen. "Es lassen sich sogar mehrere Beteiligte anschließen, sie begegnen sich als Avatare am virtuellen Tatort", schwärmt Breker. Ein Richter könnte einen Angeklagten auffordern, von A nach B zu gehen. Per Knopfdruck lässt sich der Ort des Schreckens auch aus der Frosch- oder aus der Vogelperspektive betrachten. "Polizisten und Juristen können so ihren Betrachtungshorizont erweitern und auf neue Schlussfolgerungen kommen."

Virtuelle Obduktion

Scannen lassen sich auch Körperteile. So scannte Breker das Verletzungsmuster am Kopf eines jungen Mannes, der im Raum Mittelfranken Opfer eines brutalen Überfalls wurde. Tritte ins Gesicht und gegen den Kopf musste er einstecken, glücklicherweise überlebte er das Martyrium. Gesichert und gescannt wurden auch die Schuhe des Tatverdächtigen. Die 3 D-Ansicht zeigt, dass sich die Ösen des Schuhs exakt am Verletzungsmuster im Gesicht des Opfers wiederfinden. Klar wird auch, wie der Täter tatsächlich getreten hat, in diesem Fall mit dem Fußrücken. Hätte er auf den Kopf gestampft, wäre im Verletzungsmuster das Profil der Schuhsohle abgebildet. Breker: "Wir konnten damit zur Aufklärung des Verbrechens beitragen."

So wie sich Tatorte per Lasertechnik einfrieren lassen, so lassen sich auch Leichen mit Verletzungen digital dauerhaft konservieren. "Wir sind in der Lage, virtuell durch den menschlichen Körper zu gehen", sagt der Ingenieur. Der Betrachter sieht Verletzungen dann von innen, kann Einschusswinkel oder den Verlauf und die Tiefe eines Einstichs nachvollziehen. "Virtopsy" heißt der Fachbegriff, eine virtuelle Obduktion, die per CT-Daten möglich ist. Breker ist sich sicher, dass das irgendwann mal Einzug in die Rechtsmedizin halten wird.

So lange entwickeln er und sein Team das virtuelle Labor weiter, um Tatorte noch besser durchdringen zu können. Die Gravitation gehört dazu, wie fallen Gegenstände und Blut bei einem Kampf wirklich. Oder die Schallanalyse, in der sich Geräusche in den virtuellen Raum einspielen lassen — kam der Schuss tatsächlich aus der angegebenen Richtung?

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