Initiativen für Bedürftige
Wie die wachsende Armut auch in Nürnberg sichtbar wird
8.9.2021, 05:58 UhrEs war eine gut gekleidete ältere Frau, die durch diesen öffentlichen Großstadt-Park ging. Auffällig war nur das Leiterwägelchen. Die Frau, etwa im Alter der eigenen Mutter, schaute unter Büsche und in Mülltonnen. Sie sammelte leere Flaschen, so etwas kann man nicht unauffällig tun. Der Impuls, einen Geldschein herauszusuchen, war nur schwer kontrollierbar. Man fühlte sich schrecklich bei diesem Gedanken, hilflos, beschämt. Aber was hätte man tun sollen?
Wir schämen uns beide nicht, schlug die Frau vor, sie nahm den Geldschein gerne und erzählte, dass sie mehrmals wöchentlich aus der Vorstadt kommt, mit dem Bus. Im Leiterwägelchen saß sie schon als Kind, "da", sagte sie, "waren wir wirklich arm, wie fast alle". Heute reicht die Rente nicht mehr ganz zum Leben, die Differenz gleicht das Flaschenpfand aus.
Eine Überwindung
Sie klagt nicht. Aber, ja, es habe Überwindung gekostet, sich dabei sehen zu lassen, so. Es sei, man möge es bitte nicht falsch verstehen, ein Trost gewesen zu merken, dass sie mit diesem "So" nicht allein ist.
Armut ist wieder sichtbar geworden in Deutschland, sehr sichtbar, aber sie sieht ganz anders aus als noch vor 30 bis 40 Jahren, als die Armen nur jene Obdachlosen zu sein schienen, die unter Brücken schliefen – und denen manche Passanten eine D-Mark unter der Auflage spendeten, dafür ja keinen Schnaps zu kaufen.
Schockierende Bilder
Der "Penner" war ein Klischeebild, aber die Frage, was Armut eigentlich ist, stellte sich zumindest öffentlich kaum mehr, als das nach dem Krieg in jeder Hinsicht arme Land zum Wirtschaftswunderland und Sozialstaat avancierte – bis in die 70er Jahre galt in der Bundesrepublik eine Arbeitslosenquote von mehr als 1,5 Prozent als politisch nicht akzeptabel, und noch 1983 waren die Bilder aus New York schockierende Bilder aus einer anderen Welt.
Die City Harvest, die Ernte in der Stadt, initiiert von einer Mitarbeiterin einer Fast-Food-Kette, sollte zum weltweiten Vorbild dafür werden, wie man scheinbar überflüssige Lebensmittel an Bedürftige geben kann – die sahen nicht mehr so aus wie im Klischee, und es gab sie nicht nur in Amerika. Was Armut ist, wird seither diskutiert, es gibt viele Begriffe, die "neue Armut", die "relative Armut", die "sekundäre", sogar die "tertiäre" Armut, und manchmal hat man den Eindruck, die Debatten fänden ohne die Betroffenen statt.
15,9 Prozent Arme im Land
Es gibt jede Menge sich teils widersprechende Theorien zu Armuts-Ursachen – darüber hat die Armutsquote in Deutschland mit 15,9 Prozent den höchsten Wert seit der Wiedervereinigung erreicht. Die Zahl steht im aktuellen Paritätischen Armutsbericht. Haushalte, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Haushalte beträgt, gelten als arm.
Zum Kantinen-Hof des Verlagshauses Nürnberger Presse sind an diesem Tag rund hundert Frauen und Männer gekommen, junge und alte, die Schlange reicht bis auf die Badstraße hinaus. Die Privatinitiative Hiob, zu der sich Männer und Frauen aus Nürnberg, Lauf und Diepersdorf zusammengeschlossen haben, lädt einmal im Monat Menschen hierher ein, denen ihr Einkommen nicht zum Leben reicht. Der Verlag stellt den Hof kostenlos zur Verfügung.
"Uns geht es gut"
Es gibt dazu keine Theorie. "Uns geht es gut, anderen nicht", sagt Peter Burkhard, das sei der Impuls gewesen. Hiob ist kein Verein, der Name steht nicht für einen religiösen Grundgedanken, sondern für das, worum es geht: um die Unterstützung von Hilfsbedürftigen und Obdachlosen.
Als sie damit begannen, "sind wir einfach mit Bollerwägen durch die Innenstadt gezogen", erzählt Burkhard. Sie hatten Lebensmittel gesammelt, Kleidung, Hygiene-Artikel, Isomatten – "die ganze Palette", wie der Organisator Burkhard sagt, "was den Leuten fehlt, haben wir gelernt". Einmal kam eine Frau mit dem Kinderwagen, sie fragte nach Windeln, Hiob hat ihr dann welche nach Hause gebracht. Es gibt sehr viele ähnliche Initiativen, allein in Nürnberg helfen mindestens 600 Menschen zum Beispiel mit, Lebensmittel vor der Mülltonne zu retten.
Die Mutter darf nichts wissen
Jürgen, graue Haare, gepflegter Schnurrbart, ist 59 Jahre alt und muss seit zwei Jahren mit dem Arbeitslosengeld II, der Grundsicherung, auskommen. Er hat, sagt er vor dem Hof, zu lange studiert, zu lange in der Gastronomie gearbeitet, später "Versicherungen gemacht, angelernt", wie er erzählt.
Er wurde krank, er lebt wieder bei seiner Mutter, aber verlässt die Wohnung jeden Morgen. Die Mutter, sagt er, dürfe nichts wissen von seinen Lebensumständen, er wünscht sich nichts dringender als "einen Job, irgendeinen, gearbeitet habe ich immer". Jetzt hofft er auf ein paar feste Schuhe für den Winter, 18 Paar stehen bereit. Acht Männer und Frauen haben die Spenden in einem Kleinbus und vier Autos gebracht.
Scham - vor den Kindern
Kathrin, 42 Jahre alt, steht jetzt hier im Hof. Sie ist Optikerin, Mutter zweier Kinder, geschieden, berufstätig. Ihr Ex-Mann ist arbeitslos, ihr bleiben, sagt sie, knapp 700 Euro, um den Kindern etwas zu bieten. Smartphones haben die Kinder nicht, und man könnte jetzt darüber nachdenken, was es heißt, an der Gesellschaft gleichberechtigt und in Würde teilzuhaben – es nicht zu können, bedeutet ein wichtiges Indiz für Armut. Und Kinder ohne Smartphone, sagt Kathrin, sind heute Außenseiter. Sie macht eine Pause und schluckt. Als Mutter, sagt sie, "schämst du dich".
Brauchen "solche" ein Handy? So hört man es auch. Der Begriff der relativen Armut hat oft einen Beiklang: halb so schlimm, ertragt es gefälligst. Die Menschen, die hier und anderswo versorgt werden, sind nicht in existenzieller Not, nicht im Überleben bedroht. Aber sie fühlen sich abgehängt, ausgegrenzt, "relativ" im Verhältnis zum Wohlstand der Bevölkerung. Man kann an Bertolt Brecht denken. "Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich", heißt es in einem seiner Gedichte.
Dauerhaft arm
Die Ungleichheit in diesem reichen Land wächst seit Jahren, zwei Drittel des Vermögens gehören zehn Prozent der Bevölkerung. Volkswirtschaftliche Erfolge kommen bei den Armen nicht mehr an, und wer einmal unter die Armutsgrenze rutscht, bleibt immer öfter arm, die Zahlen hat das Statistische Bundesamt im März vorgelegt: Von Armut bedrohte Menschen bleiben fast zur Hälfte, zu 44 Prozent, dauerhaft in dieser Situation – mehr als doppelt so viele wie noch 1998.
Man denkt an die Diskussionen, die schon mit dem Erfolg der Tafeln aufkamen. Zu den neofeudalen Almosensystemen hat man die Versorgung von Menschen mit gespendeten Lebensmitteln gerechnet, als gesellschaftlichen Pannendienst verspottet oder konstatiert, dass sie in Barmherzigkeit stehenbleiben, dem Staat aus der Verantwortung helfen und damit zum weiteren Abbau des Sozialstaats beitragen. Nur: Die Zahl der Bedürftigen wächst, es werden ja immer mehr Einrichtungen, Sozialkaufhäuser, Suppenküchen, Vesperkirchen, viele private Initiativen.
Manchmal helfen Gutscheine
Im Corona-Lockdown stieß auch Hiob an Grenzen, leere Städte, wenig Hilfen von Passanten, "da waren wir beruhigt, dass es die Bienchen gibt und die Engel und andere Helfer", sagt Peter Burkhard. Einmal haben sie, als die Spenden verteilt waren, bei McDonalds Gutscheine geholt für die Letzten in der Schlange.
Wer mit Lebensmittelrettern redet, hört auch, dass das nur die Bekämpfung eines Symptoms sei – aber dass sozialpolitische Debatten den Betroffenen nicht helfen. "Ich würde manchem Theoretiker Begegnungen mit der Praxis wünschen", sagt Burkhard, der auch in dieser Geschichte lieber gar nicht vorkäme. "Wir wollen helfen, nicht uns ins Bild stellen", sagt er, "es gibt genug Leute, die so medienwirksam wie möglich auf sich hinweisen" – oder Initiativen, das hört man hier im Hof, die missionieren wollen, politisieren, Bedingungen stellen.
"Es kann jeden treffen"
Peter Burkhard mag schon Worte wie "Armenspeisung" nicht, es ist ein Wort aus dem Mittelalter und steht für eines der christlichen Werke der Barmherzigkeit, mit denen man das eigene Gewissen auf einen besseren Stand bringen konnte. Burkhard kennt natürlich auch Einwände wie "selbst schuld", "die sollen doch arbeiten", er erschrickt noch immer darüber. "Es kann jeden treffen", das, sagt er, hat er gelernt, und Jürgen erzählt von einem Schulfreund, auch Anfang 50, Ingenieur, drei Kinder, geschieden, noch in Leiharbeit beschäftigt und – weil das Unternehmen den Standort schließt – vor der Arbeitslosigkeit stehend. Sie unterhielten sich jetzt öfter, sagt Jürgen, "er hat Angst in seinem Alter".
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Sieht man hier, im Hof der Pressekantine, eine neue Gesellschaftsschicht? Es ist schwierig mit solchen Begriffen, aber Soziologen haben schon von einer Klasse der neuen Armen gesprochen, einer in westlichen Industrienationen neuartigen Gruppe, zu der Hartz-IV-Empfänger zählen, Beschäftigte mit Niedriglöhnen, Emigranten, Aussiedler – aber auch sogenannte intakte Familien, Kinder, Menschen mit gehobenem Bildungsstand und zunehmend betagte Menschen.
Es gibt kein Klischee mehr
Würde man die Menschen nicht hier sehen, sondern an einer Autobahnraststätte, könnte man sie auch für eine Gruppe von Bus-Touristen halten. "Armut sieht man den Menschen nicht mehr an", sagt Peter Burkhard. Es gibt kein praktisches Klischee mehr; Arbeitslose sind laut dem nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes erstellten Armutsbericht keine Mehrheit. Etwa ein Drittel der Armen ist erwerbstätig, fast 30 Prozent beziehen Rente.
Frau W. ist 72 Jahre alt, verwitwet, sie ist zum ersten Mal hier – zweimal, erzählt sie, hatte sie alles aus der Ferne beobachtet. Die Miete ist stetig gestiegen, die Wohnung ist, eigentlich, zu groß, sie will aber nicht zum Sozialamt gehen, sie will ihr Zuhause behalten. Drei große Plastiktüten hat sie in der Handtasche verstaut. Sie sagt, dass sie mit sich ringt – und macht doch wieder kehrt.
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