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Wie sich Überlebende der Shoa in Nürnberg an NS-Tätern rächten
Nürnberg
-
Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten sich Überlebende der Shoa an den NS-Tätern rächen - mit einem Anschlag auf das Trinkwasser. Die Aktionen sollten in Nürnberg beginnen, es gab mehrere Pläne. Einer wurde umgesetzt.
"Nakam" heißt Rache auf Hebräisch; es war der Name einer jüdischen Gruppe, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg die Ermordung von sechs Millionen Juden rächen wollte. Es galt ein Fanal zu setzen: "Solche Verbrechen müssen in einer Weise bestraft werden, die den Leuten im Gedächtnis bleibt", begründete der ehemalige jüdisch-litauische Widerstandskämpfer Joseph Harmatz das Vorhaben. Geplant waren Massenvergiftungen bis hin zu Mordanschlägen auf verantwortliche, hohe Nazis.
Lange Zeit waren die Aktionen der jüdischen Rächer ein tabuisiertes Thema – auch in Israel. "Jahrzehnte haben wir diese Geschichte in unserem Herzen verborgen und sie niemandem erzählt", so Joseph Harmatz. Er und rund 50 weitere Shoa-Überlebende aus Osteuropa hatten sich im Frühjahr 1945 zur Gruppe Nakam zusammengeschlossen. Die Idee, eine solche Organisation zu gründen, stammte vom charismatischen Dichter Abba Kovner, der im Ghetto Wilna und später als Partisan gegen die deutschen Besatzer kämpfte. Der jüdische Schriftsteller forderte: Für jeden der Millionen getöteter Juden sollte ein Deutscher sterben. Um dieses Vorhaben am effektivsten umzusetzen, entwickelten die traumatisierten "Rächer" einen wahnwitzigen Plan: Das Trinkwasser sollte vergiftet werden.
Allerdings hatte man bald ein neues Ziel avisiert: ein Attentat auf den Nürnberger Kriegsverbrecherprozess. Das langwierige juristische Verfahren war für die "Rächer" nicht nachvollziehbar: "Es machte uns krank, dies mit anzusehen. Die Fakten waren doch bekannt, unsere Leute waren ermordet worden." Bewaffnet mit MPs und Handgranaten wollten Harmatz und seine Kameraden in den Gerichtssaal eindringen und "den großen Helden ein Ende bereiten". Doch auch dieser Plan scheiterte. Das Gebäude war zu stark gesichert. Der Blick der "Rächer" richtete sich nun auf das US-Gefangenenlager in Nürnberg-Langwasser. Dort waren weit über 10.000 SS-Männer und Nazi-Funktionäre interniert.
Jeden Abend trafen sich die "Rächer" und diskutierten ihren Plan. Inzwischen hatte ein Kurier große Mengen Arsen nach Nürnberg geschmuggelt. "Wir wussten, dass das Brot für die Gefangenen in der Konsum-Bäckerei gebacken wurde", erinnerte sich Leipke Distel. Der damals 24-Jährige bewarb sich um einen Posten in der Brotfabrik und wurde auch prompt eingestellt. Am Samstagmorgen, dem 13. April 1946, ging Leipke Distel wie gewöhnlich zur Bäckerei.
Nach Arbeitsende versteckte er sich in einer Lagerhalle und ließ weitere "Rächer" unbemerkt ein. Das Gift befand sich schon seit Tagen auf dem Werksgelände. Bei Einbruch der Dämmerung begannen die Männer mit ihrer Arbeit. "Ich habe das Brot genommen und reichte es meinem Kameraden, der mit einem großen Pinsel das Gift auf die Unterseite des Brotes gestrichen hat", erinnerte sich Leipke Distel noch lebhaft an diese Nacht.
Graubrot wurde vergiftet
Um zu verhindern, dass unschuldige Menschen Schaden erleiden, vergifteten sie nur das Graubrot. Denn für die US-Wachmannschaft wurde ausschließlich Weißbrot gebacken. "Ich schätze, dass wir in dieser Nacht etwa 3.000 Brote mit Gift bestrichen haben", glaubte Distel. Er und seine Kameraden setzten sich danach in die Tschechoslowakei ab und gelangten schließlich unbehelligt nach Palästina. Die Brotlaibe wurden planmäßig an das Straflager ausgeliefert und verteilt.
Nach kurzer Zeit litten Tausende SS-Männer unter heftigen Leibschmerzen; manche zeigten deutliche Vergiftungserscheinungen. "Vergiftetes Brot setzte 1.900 Gefangene in US-amerikanischem Gefangenenlager in Nürnberg außer Gefecht", titelte die New York Times am 20. April 1946. "Vergiftungsversuch an deutschen Kriegsgefangenen", meldete die Nachrichtenagentur DANA einige Tage später. "Von den insgesamt 15.000 Insassen sind 2.283 an Vergiftungserscheinungen erkrankt, 207 davon wurden ins Lazarett eingeliefert. Todesfälle sind nicht eingetreten." Dieser kurze Bericht erschien auch in den Nürnberger Nachrichten.
Da sich Joseph Harmatz und Leipke Distel im Herbst 1999 in einem Film der Medienwerkstatt Franken öffentlich zu ihren Taten bekannt hatten, eröffnete die Staatsanwaltschaft Nürnberg umgehend ein Ermittlungsverfahren wegen Mordversuchs gegen beide Männer. Dieses eilfertige Verhalten der deutschen Justiz schlug hohe mediale Wellen angesichts ihres jahrzehntelangen Unwillens, NS-Verbrecher abzuurteilen. Zeitungen und TV-Stationen in Israel, den USA und in Europa berichteten kritisch über den plötzlichen Ermittlungseifer der Staatsanwaltschaft. Nicht zuletzt aufgrund des öffentlichen Drucks wurde das Verfahren am 8. Mai 2000 eingestellt – dem 55. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus. Begründung: "Der gescheiterte Anschlag ist wegen außergewöhnlicher Umstände des Falls verjährt."
Die "Rächer" waren jedoch bis zu ihrem Tod von der Legitimität ihrer damaligen Aktionen überzeugt. "Wir mussten etwas tun, damit sich die Leute merken, dass Gräueltaten bestraft werden", begründete Joseph Harmatz diese Haltung. Auch Leipke Distel bereute nichts: "Wir haben moralisch gehandelt; denn die Juden hatten ein Recht, sich an den Deutschen zu rächen." So sah das übrigens auch der renommierte israelische Historiker und zeitweilige Leiter der Shoa-Gedenkstätte Yad Vashem, Israel Gutman. Für ihn war klar: "Die Nakam-Aktivisten erfüllten das Vermächtnis der in den Gaskammern Getöteten."
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