75 Jahre Nürnberger Prozesse: "Macht und Ohnmacht"

Michael Husarek

Chefredakteur Nürnberger Nachrichten

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18.11.2020, 05:51 Uhr
Einer der Hauptangeklagten bei den Nürnberger Prozessen war der frühere Reichsmarschall Hermann Göring (mit Sonnenbrille). Gleich neben ihm der einstige Stellvertreter des Führers, Rudolf Heß. Göring schützt seine Augen vor den 22 Deckenstrahlern, die den Saal für die Prozess-Filmaufnahmen ausleuchteten. 

© NZ Archiv Einer der Hauptangeklagten bei den Nürnberger Prozessen war der frühere Reichsmarschall Hermann Göring (mit Sonnenbrille). Gleich neben ihm der einstige Stellvertreter des Führers, Rudolf Heß. Göring schützt seine Augen vor den 22 Deckenstrahlern, die den Saal für die Prozess-Filmaufnahmen ausleuchteten. 

75 Jahre Nürnberger Prozesse - woran erinnern wir uns da eigentlich genau?

Das war das erste Mal in der Weltgeschichte, dass Besiegte nicht an die Wand gestellt oder ins Exil vertrieben wurden. Zum ersten Mal wurde damals in Nürnberg mit dem Mittel des Gerichtsverfahrens versucht, Völkerunrecht aufzuarbeiten.

War das nicht auch Siegerjustiz?

Ja. Insofern als die Besiegten gar nicht selbst richten konnten, es waren ja nur die Sieger da, die ein solches Verfahren initiieren konnten.


Zeuge der Nürnberger Prozesse: Ein Leben für Frieden und Gerechtigkeit


Gab es denn eine Grundlage für den Prozess?

Ja, denn es geht hier um Rechtsgrundsätze, die man nicht kodifizieren muss. Das ist so selbstverständlich wie die zehn Gebote, die werden mehr oder weniger respektiert. Dieses Recht, das man einfach kennt – darum geht es. Das ist von Natur aus so, die Nürnberger Prinzipien haben das aufgenommen.

75 Jahre Nürnberger Prozesse:

© Foto: picture alliance/dpa

Was besagen diese Prinzipien genau?

Grundsätze, mit denen man offene Fragen, wie die nach der Strafbarkeit, ein für alle Mal regeln kann. Dazu zählt auch die Frage: Was macht derjenige, der unter Befehlsnotstand gehandelt hat? Das sind Lehren aus dem Nürnberger Prozess, die die Vereinten Nationen im Januar 1946 aufgegriffen haben. In London auf der ersten UN-Generalversammlung sind diese Prinzipien einstimmig angenommen worden. Dass darauf kein Weltstrafgericht entstanden ist, hat viel mit der Blockbildung und dem Kalten Krieg zu tun.

Als Vater der Nürnberger Prinzipien gilt Robert H. Jackson – war er tatsächlich der geistige Urheber?

Nein, aber er war einer von ihnen. Er war der von den Amerikanern, genauer: vom US-Präsidenten ausgewählte Chefankläger, der zuvor auch das Londoner Abkommen und das Statut des Gerichtes mit verfasst hat. Als Vertreter der größten und mächtigsten Siegermacht hat er das Eröffnungsplädoyer gehalten, das hat ihn dann in den Vordergrund gerückt. Jackson hatte freies Feld und hat Pflöcke eingeschlagen, an die sich alle gehalten haben.

Die Nürnberger Prozesse seien eines der größten Zugeständnisse, das die Macht der Vernunft gemacht habe, lautet einer von Jackson berühmten Sätzen…

…genau, das ist eines seiner geflügelten Worte. Das macht die Nürnberger Prozesse so bedeutsam.

Und trotzdem hat sich der vermeintliche Durchbruch des Völkerstrafrechts als stumpfes Schwert herausgestellt. Es sollten nach dem Urteilsspruch von Nürnberg Jahrzehnte vergehen, ehe man sich dieser Prinzipien wieder besonnen hat.

Leider war das so. Die Blockbildung schritt rasch voran, der so genannte gerechte Krieg wurde geduldet. 1993 war es dann ein Meilenstein, als man dieses Blockdenken überwunden hat. Mit den Tribunalen für Ruanda und Jugoslawien hat man sich wieder auf die Nürnberger Prinzipien besonnen. Dazwischen lagen 50 Jahre Straffreiheit, wie viele Jahrhunderte vorher.

Heute sind wir aber immer noch weit von einer flächendeckenden Völkerstrafgerechtigkeit entfernt. Haben Sie Hoffnung, dass es wirklich irgendwann ein Völkerstrafrecht gibt, das diesen Namen verdient, weil es in jedem Winkel der Erde zur Anwendung kommen kann?

Ja, diese Hoffnung hege ich. Es gibt bereits heute auch in den Ländern, die nicht Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofes sind, Bemühungen, die Täter ausfindig zu machen und zu verurteilen. Wenn natürlich in den USA Verfahren stattfinden und der US-Präsident hinterher Verurteilte begnadigt, dann kann man nichts machen.

Von Nürnberg aus werben Sie mit der Akademie für ein flächendeckendes Völkerstrafgericht. Was können Sie bewegen?

Wir sind eine neutrale Instanz, sind also nicht pro Syrien oder contra USA. Wir sind keine Nichtregierungsorganisation. Wir kümmern uns um die Aus- und Fortbildung von Praktikern, betreiben praktische Forschung und bieten ein Forum für den Dialog, auch mit den Kritikern des Gerichtshofes in Den Haag.

Kritik ist auch mit Blick auf das Unrecht in Syrien angebracht. Werden die dortigen Verbrechen gegen die Menschlichkeit jemals geahndet?

Ja, dessen bin mir ganz sicher – und wenn es 20 Jahre dauert. Jeder Straftäter aus Syrien, der glaubt, sich in Sicherheit zu wiegen, weil er sich in Westeuropa als Flüchtling versteckt, muss mit seiner Verfolgung rechnen. In Koblenz findet derzeit ein solches Verfahren statt.

Wie sieht das mit Diktaturen aus, etwa Nordkorea? Oder China und den Umgang mit Taiwan oder den Uiguren?

Schwierig. Es gibt keine Weltpolizei. Das wird dauern. Macht und Ohnmacht des Völkerstrafrechts liegen eng zusammen. Die Aufgabe der Akademie macht dies umso spannender und aktueller. Die Tatsache, dass wir in Syrien keine Verfahren haben, liegt nur am Vetorecht im Weltsicherheitsrat. Auch da gibt es Bewegung. Auch wenn es noch mal 30 Jahre dauern wird, eines Tages werden diese Verbrechen geahndet.

Kann ein zum Weltkulturerbe ernannter Saal 600 bei Ihrer Aufgabe helfen?

Es ist wirklich beeindruckend, wenn man Menschen beobachtet, die erstmals dort sind. Es ist ein unheimlicher Effekt, der von diesem Saal ausstrahlt. Ich würde mir wünschen, dass möglichst viele Menschen von diesem Effekt in den Bann gezogen werden. Wenn das Weltkulturerbe dazu beitragen kann, den Saal zu erhalten, ihn für mehr Menschen zugänglich zu machen, dann ja.


Zur Person: Der Jurist Klaus Rackwitz leitet die Akademie Nürnberger Prinzipien. Von 2003 bis 2011 war er in Den Haag beim Internationalen Strafgerichtshof als Verwaltungsleiter tätig, anschließend war er Verwaltungsdirektor von Eurojust, einer EU-Einrichtung, die bei der Bekämpfung grenzüberschreitender Verbrechen hilft.

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