So arbeitet es sich in der "Fabrik der Zukunft" von Leoni

22.12.2019, 06:03 Uhr
Bevor die Spezialkabel in die Produktion gehen, werden sie unter den verschiedensten Bedingungen wie tropische Hitze, extreme Kälte oder hohe Luftfeuchtigkeit getestet. Hier Lothar Reichmann bei der Prüfungsvorbereitung im Hochfrequenz-Labor.

© Hans Pühn Bevor die Spezialkabel in die Produktion gehen, werden sie unter den verschiedensten Bedingungen wie tropische Hitze, extreme Kälte oder hohe Luftfeuchtigkeit getestet. Hier Lothar Reichmann bei der Prüfungsvorbereitung im Hochfrequenz-Labor.

Am weitesten vorangeschritten ist der Umzug der Dienstleistungsbereiche. Fast vollständig vertreten sind ebenfalls bereits die Mitarbeiter des Labor- und Entwicklungszentrums für digitale Technologien. Mehr und mehr erwacht außerdem das (Arbeits-)Leben in den nagelneuen Werkshallen. Inzwischen ist an der Lände die Zertifizierung der ersten Maschinen schon abgeschlossen und nach einem umfangreichen Probebetrieb die reguläre Produktion angelaufen. Bis allerdings der gesamte Maschinenkomplex die gut drei Kilometer lange Reise von der Stadtmitte zum Industriegebiet am Main-Donau-Kanal überstanden hat, wird noch viel Wasser die Rednitz hinabfließen.

Erst in zwei Jahren ist der alte Traditionsstandort des auf der ganzen Welt tätigen Autozulieferers Leoni AG mit Sitz in Nürnberg endgültig Geschichte. Allerdings: Wer in absehbarer Zeit in der "Fabrik der Zukunft" die Fortsetzung des ehemaligen Rother Drahtzugs und der heutigen Kabelentwicklung und Herstellung verantwortet, steht noch in den Sternen. Dass die Kabelsparte "Wire & Cable Solutions" von der Leoni AG abgetrennt werden soll, überschattet einen Prozess, der vor fast vier Jahren im Markgrafensaal von Schloss Ratibor, dem Ursprung des Rother Drahtzugs, seinen Anfang nahm. Ein strahlender Rother Bürgermeister Ralph Edelhäußer und ein gelöster Klaus Probst, damaliger Vorstandsvorsitzender der Leoni AG, unterschrieben einen folgenreichen Kaufvertrag. Leoni hatte sich damit 134.000 Quadratmeter Fläche am Rother Hafen gesichert. "Wir wollen dort das modernste Kabelwerk Europas bauen", sagte Probst damals. Der Bürgermeister schwärmte von einem Meilenstein in der Rother Stadtentwicklung und vom "Wohnen im Leoni-Park".

90 Millionen werden investiert

Der bei der Unterzeichnung der Kaufverträge (über die Höhe der Kaufsumme vereinbarten beide Seiten Stillschweigen) prognostizierte Zeitplan war aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Zeiten für die Leoni AG relativ schnell überholt. Nach dem ersten Zeitplan sollte bereits Ende 2018 der alte Leoni-Standort an der Rednitz geräumt sein und knapp zwei Jahre später die ersten Wohnhäuser auf dem alten Fabrikgelände stehen.

Der Bau der "Fabrik der Zukunft" allerdings stand bei allen finanziellen Problemen, die den Kabelhersteller nach wie vor plagen, nie ernsthaft in Frage. Auch wenn Klaus Probst längst nicht mehr als Vorstandsvorsitzender von Leoni fungiert. Schon in den 1990er Jahren hatte er, damals als Leiter des Rother Werks, über eine Optimierung des Standorts im Stadtzentrum nachgedacht. Manche Fabrikgebäude an der Stieberstraße wurden bereits vor 100 Jahren gebaut. Die jüngeren Gebäude haben auch schon 30 Jahre auf dem Buckel. Wiederholt wurde angebaut und angestückelt. Arbeitsabläufe und Logistik waren dabei eine ständige Herausforderung für Betriebsleitung und Mitarbeiter. An der Lände zählen neben einer hohen Energieeffizienz gerade Arbeitsabläufe und eine flüssige Logistik zu den Stärken des neuen Werks.

Neben der innovativen Produktion im Kerngeschäft von Leoni, der Herstellung von Spezialkabeln, zeichnet die "Fabrik der Zukunft" in einem Hightech-Labor- und Entwicklungszentrum für die Entwicklung von neuen, technisch komplexen Produkten und Systemen wie Datenleitungen für autonomes Fahren oder intelligenten Kabelsystemen für die Erfassung und Auswertung von Schlüsselparametern verantwortlich. Rund 90 Millionen Euro investiert Leoni in den neuen Rother Standort mit neuen Gebäuden, Maschinen, Anlagen und Lieferantenleistungen sowie den Umzug. Ausgelegt ist das Werk an der Lände auf eine jährliche Kabelproduktion von zirka 400.000 Kilometern.

Beim Gang durch die neue Fabrik von Leoni wird rasch deutlich, dass auf einer Fläche von 57.000 Quadratmetern die Zukunft bereits begonnen hat. Und doch herrscht bei den Beschäftigten in den Rother Werken nicht nur Aufbruchstimmung. Obwohl die Auftragsbücher nach wie vor gut gefüllt sind, plant Leoni eine Trennung vom profitablen Unternehmensbereich "Wire & Cable Solutions" und damit auch von der "Fabrik der Zukunft". Die Verunsicherung bei den Mitarbeitern ist nachvollziehbar. Eine endgültige Entscheidung steht zwar noch aus, doch inzwischen ist laut Konzern-Pressesprecher Sven Schmidt der Börsengang als Alternative zu einem Verkauf nicht mehr sehr wahrscheinlich.

Dabei sollte für den größten privaten Arbeitgeber der Kreisstadt gerade die neue Fabrik an der Lände eigentlich eine sorgenfreie Zukunft für die Mitarbeiter gewährleisten. Dafür unterstützen die Beschäftigten den Bau des neuen Standorts seit sechs Jahren mit einer zeitlich begrenzten unbezahlten Mehrarbeit in der Größenordnung von acht Prozent des Arbeitslohns.

Fabrik der kurzen Wege

Fünf Jahre lang betrug die unbezahlte Mehrarbeit wöchentlich drei Stunden. In diesem Jahr waren es zwei Stunden und nächstes Jahr ist eine Stunde pro Woche vorgesehen. Ab dem Jahr 2021 greift dann wieder die tariflich verankerte Regelarbeitszeit. Im Gegenzug zur unbezahlten Mehrarbeit schloss Leoni in der Laufzeit des sogenannten Ergänzungstarifvertrages die betriebsbedingte Kündigung von Mitarbeitern aus. Gleichzeitig sicherte das Werk zu, dass die Anzahl der Stammmitarbeiter die Marke von 600 nicht unterschreitet. Außerdem wurde ein jährliches Investitionsvolumen in Anlagen und Betriebsmittel in Höhe von drei Millionen Euro festgeschrieben.

Unabhängig von den Verkaufsabsichten und den damit verbundenen Sorgen bei den teils hochqualifizierten Mitarbeitern ist an der Lände auf einer Gesamtfläche von 134.000 Quadratmetern seit der Grundsteinlegung im Juni 2017 ein Komplex entstanden, der mit seinen Rahmenbedingungen das genaue Gegenstück zum "verschachtelten" Werk an der Stieberstraße bildet.

Geplant von den Architekten des Hauses Omlor-Mehringer und umgesetzt von Züblin als Generalunternehmen, ist eine Fabrik der kurzen Wege entstanden, die nicht nur eine hochmoderne Kabelproduktion erlaubt, sondern in den blitzsauberen Produktionshallen und lichtdurchfluteten Büros auch eine gewisse Wohlfühl-Atmosphäre schafft. Unter anderem sind Schulungsräume, Teestuben, Aufenthaltsräume, Besprechungsecken und ein freundlich und hell gestaltetes Betriebsrestaurant namens "Stiebers" (eine nette Referenz an die Wurzeln von Leoni) dafür verantwortlich.

Die rund 80 Auszubildenden, "duale" Studenten, Diplomanden und Praktikanten von Leoni fühlen sich in ihren nagelneuen Räumen bereits wie zu Hause. Welch großen Wert der Kabelhersteller mit Sitz in Nürnberg auf seinen Nachwuchs legt, verdeutlicht der neue Campus auch räumlich: Er ist im gleichen Gebäude wie die Entwicklung untergebracht, sozusagen an der Nahtstelle zwischen Produktion und Verwaltung.


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In einer eigenen Halle werden die Lehrlinge der technischen Berufe (vom Maschinen- und Anlagenführer bis zum Elektroniker und Mechatroniker) an speziellen Produktionsmaschinen an grundlegende Prozesse herangeführt. Azubis im dritten Lehrjahr werden schon in den großen Produktionshallen eingesetzt. Anfang nächsten Jahres kommt es im Leoni-Campus zu einer Premiere: Die IHK führt erstmals an der Lände Prüfungen durch, an denen sich auch Lehrlinge anderer Unternehmen beteiligen.

Für die Mitarbeiter im dreistöckigen Bürobereich hat das Prinzip "Plug & Play" schon gegriffen. Nur wenige Tage nach dem Abschied vom alten Büro an der Stieberstraße hieß es an der Lände: Anschließen und loslegen. An den Schreibtischen, die nun in jedem neuen Büro bei Leoni stehen: Das Credo "80 mal 1,60 und höhenverstellbar" gilt bei der Junior Group, der Azubi-Firma innerhalb der Mutter-Firma, genauso wie beispielsweise bei Geschäftsführer Wolfgang Lösch oder Werkleiter Wolfgang Reichel.

50 verschiedene Mischungen

Während neben den Azubis auch die Bürokräfte und die Experten im neuen Kompetenzzentrum bereits vom neuen Arbeitsumfeld profitieren, sind im PVC-Turm die Monteure und Handwerker noch voll am Werkeln. Hier sollen künftig 32.000 Tonnen PVC-Granulat pro Jahr in 50 verschiedenen Mischungen produziert werden, wobei in dem immerhin 25 Meter hohen Gebäude auch die Schwerkraft eine gewisse Rolle spielt. Zwei Anlagenführer werden einmal das Auf und Ab der Rohstoffe bei der Verarbeitung zum Granulat durch die einzelnen Stockwerke kontrollieren.

Zudem gehört im PVC-Turm der Logistik ein besonderes Augenmerk. Schließlich müssen 32.000 Tonnen Rohstoff für die jährliche Produktion erst einmal angeliefert werden. Das fertige Granulat kommt in allen Leoni-Werken der Kabelsparte weltweit zum Einsatz, wobei das Just-in-time-Prinzip eine zusätzliche Herausforderung an die Rother Kunststoff-Spezialisten stellt.

Im hochmodernen Labor und Entwicklungszentrum steht die Prozess-, Material- und Verfahrensentwicklung von Leoni-Produkten im Vordergrund. Vom Datenübertragungskabel für Multimediaanwendungen in den Autos bis zu Hochtemperatur-Motorsteuerungsleitungen reicht die Skala. Mehradrige Fahrzeug- und Sensorkabel, Kabel für Haushaltsgeräte, extrudierte Flachbandkabel, Glasfaserkabel für die Telekommunikation sowie Hochvolt-Leitungen für die Elektromobilität zählen genauso zur Produktpalette. Bevor die neu entwickelten Spezialkabel in Produktion gehen, werden sie im Labor extremen Bedingungen wie Hitze, Kälte und Luftfeuchtigkeit ausgesetzt. Außerdem sind Dehnung oder Entflammbarkeit der Kabelummantelung wichtige Kriterien in der Testphase.

Die Aussicht wird vermisst

Dass gut zwei Jahre nach der Grundsteinlegung an der Lände und dem nachfolgenden, bislang unfallfreien Bau der Betriebsgebäude nun bereits die reguläre Produktion angelaufen ist, erfüllt nicht nur die Verantwortlichen, sondern auch die Mitarbeiter mit berechtigtem Stolz. Der Abschied vom alten Standort fällt angesichts der Qualitäten der "Fabrik der Zukunft" wohl nicht allzu schwer.

Wenn auch einer der Maschinenführer, die schon an der Lände im Einsatz sind, den innerstädtischen Blick auf das beleuchtete Schloss Ratibor vermisst. Dass die Kollegen, die im dritten Stock beim Blick aus dem Bürofenster in Richtung Kanal das Oberdeck von Ausflugsdampfern wenigstens andeutungsweise sehen können, ist dem Freund des Rother Schlosses, in dem Fabrikant Stieber im 18. Jahrhundert dem Rother Drahtzug zum Durchbruch verhalf, nur ein kleiner Trost.

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