Bernd Noacks Ansichten

Endlich lassen im Theater die Schauspieler das Publikum in Ruhe!

15.6.2021, 11:18 Uhr
Bitte auf der Bühne bleiben! Wer im Publikum möchte schon von diesem Herrn Shakespeare hautnah ins Gesicht gespuckt bekommen? Lars Eidinger in einer "Hamlet"-Inszenierung.

© ANNE-CHRISTINE POUJOULAT Bitte auf der Bühne bleiben! Wer im Publikum möchte schon von diesem Herrn Shakespeare hautnah ins Gesicht gespuckt bekommen? Lars Eidinger in einer "Hamlet"-Inszenierung.

Letztens im Theater verließ wieder einmal eine Schauspielerin die Bühne. Oje, dachte man, die kommt jetzt runter, geht durch die Reihen, krabbelt durchs Parkett, spricht irgendeinen Zuschauer an, zieht einen anderen vom Sitz und schleppt ihn auf die Bühne.

Solche Aktionen waren einem noch im Gedächtnis – und waren sogar Anlass, das Theater zu meiden, weil man schon ahnte, dass es am Abend interaktiv zugehen könnte!

Aber natürlich war letztens alles anders. Die Schauspielerin, kaum hatte sie die wenigen Stufen, die von der Bühne hinab in den Saal führen, betreten, zückte ihre Maske und zog sie über Nase und Mund. Dann schritt sie im Gang fort, sprach ihren Text und hielt dabei gebührenden Abstand zum Publikum.

Wenn sich Schauspieler daran machen, während einer Aufführung ins Publikum zu kommen, dann kriegen einige Zuschauer so richtig Angst, als stünde gleich der Leibhaftige vor ihnen. Hier der Schauspieler Helmut Griem mit furchteinflößender Maske.

Wenn sich Schauspieler daran machen, während einer Aufführung ins Publikum zu kommen, dann kriegen einige Zuschauer so richtig Angst, als stünde gleich der Leibhaftige vor ihnen. Hier der Schauspieler Helmut Griem mit furchteinflößender Maske. © Sanden

Warum sie ihre Sätze unbedingt da unten aufsagte, wurde zwar nicht recht klar, aber es zeigte eines: Jetzt ist erst mal Schluss mit all den unseligen Versuchen manch hipper Regisseure, das Auditorium hautnah zu belästigen, es einzubeziehen in die Handlung eines Stückes, es „mitzunehmen“, wie es so schön hieß – und leider oft wörtlich genommen wurde.

Man hatte ja schon Unglaubliches erlebt und fühlte sich bisweilen wie in einem therapeutischen Stuhlkreis oder im Kindergarten. Künstler, die sich auf den Schoß eines verwirrten Gastes setzten und ihm Shakespeare ins Gesicht spuckten, auf dass er nur ja kapiere, dass der ihn auch ganz direkt angehe. Ganze Heerscharen von Zuschauern wurden auf die Szene gebeten, ach was: befohlen, damit sie als Statisten blöd herumglotzen.

Berüchtigt dafür, dass er sich gern auf dem Weg ins Publikum macht. Und dann noch mit solchen Grimassen! Lars Eidinger.

Berüchtigt dafür, dass er sich gern auf dem Weg ins Publikum macht. Und dann noch mit solchen Grimassen! Lars Eidinger. © Lukas Schulze

Sogar tätliche Angriffe gehörten zum Konzept von Inszenierungen, deren Einfallsarmut durch unvermuteten Körperkontakt aufgepeppt wurde: Erinnert sei an die „Spiralblockaffäre“, bei der einem renommierten Kritiker von einem rüden Schauspieler das Arbeitsmaterial geklaut wurde.


Das Schauspielhaus - vom Provisorium zur Institution


Schluss damit, endlich. Corona hat all dem und gewiss für längere Zeit einen Riegel vorgeschoben. Keine Dramenfigur wird mehr aus ihrer Rolle fallen und dem verdutzten Publikum direkt in die Arme. Kein Regisseur wird es mehr wagen, den Animateur zu geben, und aus der moralischen Anstalt eine der öffentlichen Selbsterfahrung machen.

Auch zwischen sich und einem Franz Xaver Kroetz möchte man als Theaterzuschauer doch eine gewisse Distanz gewahrt wissen.

Auch zwischen sich und einem Franz Xaver Kroetz möchte man als Theaterzuschauer doch eine gewisse Distanz gewahrt wissen. © epa apa Artinger

Wir werden verschont bleiben von der körperlichen Aufdringlichkeit, und wenn eine Figur einen seelischen Schaden hat, wird sie den uns nicht direkt ins Ohr flüstern, sondern nur davon erzählen können. Weit weg von uns, dort oben auf den Brettern. Wo sie auch hingehört.

Denn es war doch eine irrige Meinung, wir würden uns nur „betroffen“ fühlen, wenn man uns auch nah genug mit einem Problem konfrontiert, wenn man uns selber zum Bestandteil einer Handlung macht. Dem Text, der Sprache des Theaters allein trauten so viele Inszenierungen längst nicht mehr; daran, dass wir für uns alleine aus dem Drama Lehren ziehen konnten, ohne dass uns eine fremde Nase hineinstieß, glaubte man immer seltener.

Manchmal zieht er sich in den Vorstellungen sogar nackt aus, bevor er ins Publikum kommt. Hier hat Lars Eidinger allerdings noch was an. Fragt sich, wie lange noch.

Manchmal zieht er sich in den Vorstellungen sogar nackt aus, bevor er ins Publikum kommt. Hier hat Lars Eidinger allerdings noch was an. Fragt sich, wie lange noch. © Abedin Taherkenareh

Jetzt ist die Anstaltsordnung wieder hergestellt, die Barriere deutlich: Ihr da oben, wir da unten. Und dass Ihr, die wir brauchen als Spieler, Verwandler und Vermittler, nicht mehr herabsteigt zu uns, uns weckt, beschämt oder vorführt, geht voll in Ordnung. Wir wollen sehen und hören und unbequem mitdenken – nicht mitmachen.

Wenn uns danach ist, gehen wir zum Analytiker oder ins Spaßbad.

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