Bernd Noacks Ansichten
Endlich lassen im Theater die Schauspieler das Publikum in Ruhe!
15.6.2021, 11:18 UhrLetztens im Theater verließ wieder einmal eine Schauspielerin die Bühne. Oje, dachte man, die kommt jetzt runter, geht durch die Reihen, krabbelt durchs Parkett, spricht irgendeinen Zuschauer an, zieht einen anderen vom Sitz und schleppt ihn auf die Bühne.
Solche Aktionen waren einem noch im Gedächtnis – und waren sogar Anlass, das Theater zu meiden, weil man schon ahnte, dass es am Abend interaktiv zugehen könnte!
Aber natürlich war letztens alles anders. Die Schauspielerin, kaum hatte sie die wenigen Stufen, die von der Bühne hinab in den Saal führen, betreten, zückte ihre Maske und zog sie über Nase und Mund. Dann schritt sie im Gang fort, sprach ihren Text und hielt dabei gebührenden Abstand zum Publikum.
Warum sie ihre Sätze unbedingt da unten aufsagte, wurde zwar nicht recht klar, aber es zeigte eines: Jetzt ist erst mal Schluss mit all den unseligen Versuchen manch hipper Regisseure, das Auditorium hautnah zu belästigen, es einzubeziehen in die Handlung eines Stückes, es „mitzunehmen“, wie es so schön hieß – und leider oft wörtlich genommen wurde.
Man hatte ja schon Unglaubliches erlebt und fühlte sich bisweilen wie in einem therapeutischen Stuhlkreis oder im Kindergarten. Künstler, die sich auf den Schoß eines verwirrten Gastes setzten und ihm Shakespeare ins Gesicht spuckten, auf dass er nur ja kapiere, dass der ihn auch ganz direkt angehe. Ganze Heerscharen von Zuschauern wurden auf die Szene gebeten, ach was: befohlen, damit sie als Statisten blöd herumglotzen.
Sogar tätliche Angriffe gehörten zum Konzept von Inszenierungen, deren Einfallsarmut durch unvermuteten Körperkontakt aufgepeppt wurde: Erinnert sei an die „Spiralblockaffäre“, bei der einem renommierten Kritiker von einem rüden Schauspieler das Arbeitsmaterial geklaut wurde.
Das Schauspielhaus - vom Provisorium zur Institution
Schluss damit, endlich. Corona hat all dem und gewiss für längere Zeit einen Riegel vorgeschoben. Keine Dramenfigur wird mehr aus ihrer Rolle fallen und dem verdutzten Publikum direkt in die Arme. Kein Regisseur wird es mehr wagen, den Animateur zu geben, und aus der moralischen Anstalt eine der öffentlichen Selbsterfahrung machen.
Wir werden verschont bleiben von der körperlichen Aufdringlichkeit, und wenn eine Figur einen seelischen Schaden hat, wird sie den uns nicht direkt ins Ohr flüstern, sondern nur davon erzählen können. Weit weg von uns, dort oben auf den Brettern. Wo sie auch hingehört.
Denn es war doch eine irrige Meinung, wir würden uns nur „betroffen“ fühlen, wenn man uns auch nah genug mit einem Problem konfrontiert, wenn man uns selber zum Bestandteil einer Handlung macht. Dem Text, der Sprache des Theaters allein trauten so viele Inszenierungen längst nicht mehr; daran, dass wir für uns alleine aus dem Drama Lehren ziehen konnten, ohne dass uns eine fremde Nase hineinstieß, glaubte man immer seltener.
Jetzt ist die Anstaltsordnung wieder hergestellt, die Barriere deutlich: Ihr da oben, wir da unten. Und dass Ihr, die wir brauchen als Spieler, Verwandler und Vermittler, nicht mehr herabsteigt zu uns, uns weckt, beschämt oder vorführt, geht voll in Ordnung. Wir wollen sehen und hören und unbequem mitdenken – nicht mitmachen.
Wenn uns danach ist, gehen wir zum Analytiker oder ins Spaßbad.
1 Kommentar
Um selbst einen Kommentar abgeben zu können, müssen Sie sich einloggen oder sich vorher registrieren.
0/1000 Zeichen