Gaming: Wie in "Anno 1800" eine historische Epoche detailreich nachgebaut wird

11.4.2021, 14:10 Uhr
Gaming: Wie in

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Die industrielle Revolution hat das Angesicht Europas radikal verändert. Der Weg von der Agrargesellschaft zum modernen Industriestaat ist geprägt von bahnbrechenden Erfindungen wie dampfbetriebenen Fahrzeugen und Luftschiffen, von wirtschaftlichen Umwälzungen und architektonischen Meisterleistungen.

All das kann man in dem Aufbaustrategiespiel "Anno 1800" nacherleben und eine eigene Gründerzeitmetropole errichten. Die "Anno"-Serie, die es seit mehr als zwei Jahrzehnten gibt, hat einen eingebauten Lerneffekt. Man könnte sie im Geschichtsunterricht einsetzen, aber natürlich soll sie vor allem Spaß machen. Das scheint ihr ganz gut zu gelingen. 1,7 Millionen Mal hat sich der neueste Teil bislang verkauft.

Ernste Themen nur am Rande

Seit dem Erscheinen vor rund zwei Jahren wurde die Spielwelt immer weiter ausgebaut. In den Städten erfreuen botanische Gärten das Volk, sich selbst zu Ehren dürfen die Staatenlenker prachtvolle Paläste errichten, Felder werden mit Traktoren bestellt. "Negative Auswirkungen des Fortschritts sind auch in unserem Spiel spürbar, etwa die durch die Massenproduktion verursachte Umweltverschmutzung", sagt Sprecher Stefan Böhne vom Spieleentwickler Ubisoft Mainz. Ernstere Themen wie Kolonialismus oder Sklaverei kommen im "Anno"-Universum aber nur am Rande zur Sprache. "Unsere Spiele sind eher leichtherzig und liefern eine etwas romantisierende Darstellung historischer Zusammenhänge. Für viele sind sie ein Ort, wo man sich bis zu einem gewissen Grad dem Eskapismus hingeben kann."

Die jüngste Erweiterung widmet sich den Häfen, auch in der "Anno"-Welt Dreh- und Angelpunkte des Handels. Pate stand die Hamburger Speicherstadt, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts erbaut wurde. "Wir wussten wir sofort, dass sich dieses fantastische Gebäude, dieser riesige Komplex auch von der Zeit her perfekt eignen würde", erzählt Chef-Designer Volker Sassen. Das Erscheinungsbild der roten Backsteinfassaden mit ihren Sandsteinfresken, Figuren und Ziergiebeln wurde auf Basis von Fotos, Bauplänen und zeitgenössischen Grafiken rekonstruiert.


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"Wir ziehen uns aus dem Material einzelne interessante oder ikonische Elemente heraus, die wir adaptieren", beschreibt der künstlerische Leiter Tim Witprächtiger den Entstehungsprozess. "Dann fängt ein 3D-Artist mit der groben Gestaltung an. Damit können wir neue Elemente frühzeitig im Spiel testen und sehen, wie sich das Ganze in unsere Spielwelt einfügt. Danach wird ein finales Artwork mit allen Details erstellt."

In der Realität musste dem 1,5 Kilometer langen Wunderwerk ein ganzer Stadtteil weichen. Das alte Hafenviertel wurde dem Erdboden gleichgemacht, 24 000 Menschen zwangsumgesiedelt. Als die Speicherstadt am 29. Oktober 1888 von Wilhelm II. ihrer Bestimmung übergeben wird, ist Hamburg der zweitgrößte Hafen Europas, nur übertroffen von London.

Epochales Monument

Kaffee, Tabak, Kakao, Baumwolle und Kautschuk aus Süd- und Mittelamerika waren für die hanseatischen Kaufleute jahrhundertelang nahezu abgabenfrei ins Land gekommen. Nun drängte Reichskanzler Bismarck darauf, dass sich Hamburg dem deutschen Zollgebiet anschließen solle.

Die Norddeutschen beugten sich, durften aber eine autonome Freihandelszone mit einem Lagerhauskomplex behalten, vom Reich bezuschusst mit 40 Millionen Mark. Das sind heute über eine halbe Milliarde Euro. Insgesamt wird das epochale Monument 113 Millionen Mark verschlingen – eine unglaubliche Summe für die damalige Zeit.

Parallelen und Unterschiede zur historischen Vorlage

Auch im Spiel öffnet sich mit dem Bauwerk eine breite Palette an Gütern, die nicht oder nur schwer in eigenen Produktionsketten hergestellt werden können – wie Rum oder Bananen. Dass man im Spiel modulare Bauelemente aneinanderreiht, deckt sich ebenfalls mit dem Vorbild. Das Stahlskelett aus Fertigbauteilen war revolutionär und erlaubte ein rasches Voranschreiten des Baus.

Die eigene Speicherstadt darf man direkt vor der Küste ins Wasser setzen. Sonst hätten viele Spieler, die teilweise Hunderte Stunden investiert haben, Platzprobleme bekommen. Das historische Vorbild wurde auf sumpfigem Boden errichtet, in den die Bauherren 3,5 Millionen Eichenpfähle rammen lassen mussten, um dem Ensemble ein Fundament für die Ewigkeit zu geben.

Die Erschaffung der digitalen Version war weniger mühsam. 50 Mitarbeiter waren von Oktober 2020 bis Ende Februar dieses Jahres damit beschäftigt. Doch auch die "Anno"-Reihe ist, ebenso wie viele Miniaturwelten der Spieler, längst selbst ein Gesamtkunstwerk.

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