Kolumne

Wahlkampf der AfD: Alice sucht das Supervolk

12.8.2021, 17:08 Uhr
Setzt mal wieder auf den kleinsten gemeinsamen Nenner in unserer Gesellschaft: die AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel.

© Kay Nietfeld, dpa Setzt mal wieder auf den kleinsten gemeinsamen Nenner in unserer Gesellschaft: die AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel.

Liebe Alice Weidel,

ich verstehe Ihr Problem. Womit wollen Sie im Wahlkampf Stimmung machen, wenn die Erde vielleicht doch keine Scheibe ist, auf der alles gut wird, sofern wir nur alle Kopftuchmädchen und Messermänner über den Rand stoßen? Selbst der biodeutsche Teil der Menschheit scheint mehrheitlich aktuell präsentere Sorgen zu haben als die Angst vor Überfremdung. Und dummerweise ließen sich Corona und der Klimawandel sogar mit einer absoluten Mehrheit der AfD im Bundestag kaum in Anatolien entsorgen.

Was macht also eine Dagegen-Partei wie die Ihre, wenn die bewährten Feindbilder gerade mal weniger sexy sind und die eigene Agenda zu den beherrschenden Themen so dünn wirkt, dass sie ein Vogelschiss durchschlagen könnte? Sie besinnt sich auf den in jeder Hinsicht kleinsten gemeinsamen Nenner, den eine Gesellschaft finden kann: aufs Nationale.

Warum sonst, Frau Weidel, haben Sie unlängst anlässlich Ihres Wahlkampfauftaktes gefordert, wir sollten wieder selbstbewusster auftreten, mehr Stolz zeigen, Stolz darauf, Deutsche zu sein?

Wenn ich Ihnen zuliebe so tue, als fühlte ich mich angesprochen: Worauf genau soll ich Ihrer Ansicht nach stolz sein? Auf das Wirtschaftswunder und den friedlichen Mauerfall vielleicht? Kann ja sein, dass Sie sich äußerlich toll gehalten und persönlich an beiden historischen Entwicklungen entscheidend mitgewirkt haben, ich mag mir dafür nicht auf die Schulter klopfen.

Ich bin mir ferner ziemlich sicher, dass Beethoven seine Töne völlig ohne mein Zutun gesetzt hat, dass ich die Entwicklung der Zündkerze und des Plattenspielers mit meinen Kenntnissen in Physik eher behindert als befördert hätte und - zu meinem ausdrücklichen Bedauern - auch die deutsche Braukunst und das Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel mitnichten auf meine Genialität zurückzuführen sind. Und hat etwa jemand Mario Götze 2014 im WM-Endspiel das Füßchen gehalten? War ich das? Die AfD kann's übrigens auch nicht gewesen sein, das Tor fiel nach einer Flanke von links.

Also, Frau Weidel, warum soll ich stolz sein auf das, was Deutsche geschafft haben, wenn mein einziges Verdienst darin besteht, denselben Pass zu besitzen? Dürfen Deutsche mit türkischen, griechischen, italienischen oder afghanischen Nachnamen eigentlich auch stolz sein?

Rein statistisch stehen die Chancen von neuen Erdenbürgern, so viel Glück zu haben wie Sie und ich, bei etwa 1:100. Ich halte es deswegen mit unserem Ex-Bundespräsidenten Johannes Rau. Er sagte schon vor 20 Jahren, wir sollten nicht stolz, sondern "froh und dankbar" sein, dass wir in dieses vergleichsweise reiche, sichere und tolerante Land hineingeboren wurden. Ja, Frau Weidel, Deutschland ist toll. Trotz der AfD.

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