"Antigone"-Premiere in Nürnberg: Große Bühne für eine starke Frau

11.10.2020, 16:44 Uhr
Andreas Kriegenburg entwarf für seine Inszenierung auch die Bühne mit Holzelementen.

© Konrad Fersterer Andreas Kriegenburg entwarf für seine Inszenierung auch die Bühne mit Holzelementen.

Es ist nicht nur der Sand der Zeit, der hier von oben herabrieselt und ohne Unterschied alles bedeckt: Es ist der Krieg, der alles zerrieben, kleingemacht und kleingeschliffen hat. Es ist ein Werk der Zerstörung, das über die Stadt, das Land und die Menschen gekommen ist. Es ist – das Zitat fällt wörtlich – "eine Seuche", die alles befällt, lähmt, außer Kraft setzt. Die Farben verblassen, das Leben darbt.

Ein starkes, sinnlich packendes Bild, das Regisseur Andreas Kriegenburg an den Anfang seiner Nürnberger "Antigone" gesetzt hat: Wie Lemuren, wie schwer geknickte Erdmännchen stehen die acht Schauspieler in Lumpen auf der dunklen Bühne und werden von oben mit Sand und Licht aus Spots begossen. Dazu raunen und murmeln sie unter Masken ihr Schicksal heraus, eine erstickte Gesellschaft, die ihr Leid klagt. Und die wie nebenbei – dramaturgisch wie auch rhetorisch klug gelöst – die wichtige Vorgeschichte des antiken Stoffes mit einflicht.

So fängt es an: Menschen im Sandregen.

So fängt es an: Menschen im Sandregen. © Konrad Fersterer

Aber aufgemerkt: Weil das alles ohnehin an Samuel Beckett und seine absurd ablaufenden Endspiele erinnert, darf mittendrin ruhig mal frech gekichert werden. Ist es nicht fast schon wieder komisch, wenn alles nur noch tragisch ist, die ganze verworrene Geschichte mit Inzest, Fluch und Frevel? Hehe! Ganz ohne Humor kann es einen typischen Kriegenburg eben nicht geben.

Er soll verrotten

Die Familie des Ödipus, der seinen Vater erschlug und mit der eigenen Mutter – unwissend schuldig geworden – vier Kinder zeugte, findet jedenfalls kein Glück mehr. Die zwei Söhne haben sich, im Bruderkrieg um Theben, getötet. Der eine, Polyneikes, soll als Aggressor nun nicht bestattet werden, sondern vor der Stadt elend verrotten, als Kadaver. Sagt Kreon, der neue Herrscher.

Antigone und Ismene, die Schwestern der Toten, sind sich uneins. Während Ismene (trotzig modern: Anna Klimovitskaya) den Erlass dulden will und nicht weiter anecken, fühlt sich Antigone verpflichtet, den Bruder zu ehren, ihn zu beweinen und zu begraben – notfalls heimlich, notfalls gegen das Gesetz, das ihr Onkel Kreon vehement vertritt.

Ein erster Höhepunkt

Pauline Kästner spielt diese Antigone, und schon ihr erster Monolog ist, ja, ein Höhepunkt des Abends. Kriegenburg hat sie auch konsequent in den Mittelpunkt gestellt. Setzt sie auf der Bühne des Schauspielhauses in ein Häufchen Sand und lässt sie dort in ihrer wilden Entschlossenheit und doch stets gebrochen, von Trauer und Widerstand getrieben, aber der eigenen verzweifelten Lage bewusst, vor sich hin brüten.

Wie ein Kind, das immer wieder eine Sandburg baut und sie dann einreißt, wie eine Erwachsene, die weiß, dass alles letztendlich vergeblich ist: Schon als Ibsens "Nora", hier noch mehr, geht Kästner – so nackt, so zerbrechlich, so ungeschützt rührend – bis an die eigenen Grenzen und überzeugt mit einem fahl leuchtenden, großen, zerrissenen Frauenporträt.

Der absolute Mittelpunkt: Pauline Kästner als Antigone.

Der absolute Mittelpunkt: Pauline Kästner als Antigone. © Konrad Fersterer

Aber auch ihr Gegenpart ist gelungen. Michael Hochstrasser löst sich erst langsam aus dem Chor heraus und nimmt die Rolle des Kreon an: Von oben fällt der Königsmantel ihm plumps vor die Füße, eher widerstrebend streift ihn Hochstrasser sich über und wird so zum Vertreter von Recht und Ordnung, der die Stadt befrieden will, jeden Aufruhr verhindern.

Kein Tyrann, kein Diktator, kein Machtmensch: ein durchaus vernünftiger, umgänglicher Mann, vielleicht gar weich im Herzen, sanft im Ton. Nie war Hochstrasser besser, vor allem am Ende, im Scheitern an einer Starrheit, die sowohl ihm wie auch Antigone zum Verhängnis wird. Ach, Kreon, du armer alter weißer Mann – deine Ära ist vorbei.

Einmal mitfühlend, einmal aufbrausend

Warum aber lässt Kriegenburg die zentrale Auseinandersetzung der beiden – Gefühl gegen Verstand, Liebe gegen Recht – zwei Mal wiederholen? Einmal mitfühlend mit Adeline Schebesch, einmal kalt aufbrausend mit Amadeus Köhli als Kreons?

Das kostet nur Zeit – und auch die zwei pausenlosen Stunden Spieldauer sind nicht durchgehend spannend.

Zumal sich Kriegenburg offenbar auch noch mit Pina Bausch messen will und choreografische Szenen einbaut, in denen das Ensemble wie Zombies zucken und zischen muss: ein zappelnder Chor der Untoten, der an den seitlich und hinten aufgehängten Holzplatten kratzt. Dass Raphael Rubino, ersatzweise eingesprungen, als blinder Seher Teiresias seinen Text dann einlesen muss, hat dagegen schon wieder höhere Komik . . .
Sehenswert ist diese düstere, erdig und sinnhaft verdichtete "Antigone" allemal – und von den antiken Stücken, die Hausherr Jan Philipp Gloger zum Glück immer wieder ausgräbt, ohnehin das bislang beste.

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