ESC: "Unser Lied für Rotterdam" ist maximal auf Sieg getrimmt

28.2.2020, 16:48 Uhr
Ben Dolic soll es dieses Jahr für Deutschland richten.

© Foto: Christian Charisius/dpa Ben Dolic soll es dieses Jahr für Deutschland richten.

Wer die dazugehörige Verkündungssendung nachts, schamhaft versteckt im Spartensender One, gesehen hat, dem schwant: Deutschland will es dieses Jahr beim Eurovision Song Contest (ESC) in den Niederlanden wirklich, wirklich wissen. Wirklich!

Mit Wissenschaft zum ESC

Zu Recht auch eigentlich. Seit 2013 karpften bis auf Michael Schulte (Platz vier im Jahr 2018) alle Teilnehmer ganz tief unten in der Tabelle herum. Dabei war man doch stets so guter Dinge, organisierte aufwändige Vorentscheid-Prozeduren, ließ die Zuschauer mitentscheiden: Und am Ende nichts als lange Gesichter.


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Das, beschloss der NDR, muss nun anders werden. Der Sender nahm alle deutsche Gründlichkeit zusammen und ging die Sache wissenschaftlich an. Kein Witz. Dem geneigten Zuschauer wurden zig Grafiken, Analysen und Erklärungen präsentiert, die belegen: Das hat ja nichts werden können bisher! Die Gründe dafür würden eine halbe Doktorarbeit füllen. Daher nur so viel: Man gelangte zu dem Ergebnis, dass man zwei Jurys braucht. Und es tunlichst vermeiden muss, das Publikum vor dem Fernsehbildschirm zu fragen. Dabei kommt ja eh nur Käse raus.

Zwei Jurys also: Eine bestehend aus ganz normalen ESC-Fans, die im vergangenen Jahr beim Wettbewerb in Tel Aviv Ergebnisse voraussagen mussten und dabei verblüffende Treffsicherheit bewiesen. Und eine setzte sich aus Musikexperten aus aller Herren Länder zusammen, die ebenfalls zeigen mussten, dass sie wissen, wie der ESC-Hase läuft. So, und diese pfiffige Schar aus Wahrsagern erster Güte wählte nun aus 607 Künstlern und 568 Songs die eine, die wahre, die einzige, die Sieger-Kombination aus. Tataaa!

Ben Dolic ist es geworden, ein 22-jähriger gebürtiger Slowene, der in Berlin lebt. Der Song, den er am 16. Mai im Finale singen wird, heißt "Violent Thing", geschrieben von dem österreichisch-bulgarischen Musiker Boris Milanov, der nicht nur schon zig erfolgreiche ESC-Lieder aus dem Ärmel geschüttelt hat, sondern auch schon für Lady Gaga, Kylie Minogue und andere Stars gearbeitet hat.

Tanz-Hymne mit wenig Anspruch

Und wie klingt dieses "Violent Thing" nun? Freundlich ausgedrückt wie eine zeitgemäße, radiotaugliche Tanz-Hymne für den fidelen Mittzwanziger. Man könnte aber auch auf internationale Gefälligkeit getrimmter Belanglos-Pop dazu sagen.

Ben Dolic ist ein guter Sänger, keine Frage. Aber glaubt der NDR ernsthaft, es gäbe irgendeine bislang streng geheim gehaltene Formel, mit der man sich harrypotter-esk einen Siegessong zusammenzaubern kann? Ein Glück, dass es Ironie-Schleuder Barbara Schöneberger gibt, die "Unser Lied für Rotterdam" moderierte und die ja weder sich selbst noch irgendwen um sich herum oder gar den ESC sonderlich ernst nimmt. Ihr nassforscher Frohsinn konnte aber die unterschwellige Verkrampftheit der ganzen Angelegenheit auch nur notdürftig übertünchen.

Hit vom Reißbrett

"Wir sind sehr an Inhalten interessiert", bekräftigte die Gastgeberin schelmisch mit Verweis auf das Thema des Songs. "Violent thing", ganz wörtlich übersetzt "gewalttätiges Ding", wird aus der Sicht eines Typen gesungen, der ein Ding – äh, pardon, eine Frau – erblickt und rummsbumms gerne Sachen mit ihr machen möchte (sicher wisse sie ja, was er wolle), von denen ihre Mama mal besser nichts erfahren sollte.

An dieser Stelle darf man den NDR dann auch gerne mal so ernst nehmen, wie er selbst es tut, und dezent anmerken: Geht‘s noch?! Im Jahr 2020, in der #Metoo-Ära, in einer generell aufgewühlten Zeit fällt euch echt nichts anderes ein? Bei der größten Fernsehshow der Welt, die 200 Millionen Menschen erreicht, kommen wir mit solchen Textzeilen daher? Es stimmt ja, Politik ist beim ESC theoretisch verboten. Es ist aber nicht verboten, Herz, Gefühl, Glaubwürdigkeit, vielleicht sogar eine Botschaft in einen Beitrag zu stecken.

"Unser Lied für Rotterdam" ist aber leider ein am Reißbrett entworfenes Stück Musik, von dem man gar nicht wissen will, was seine Entstehung gekostet hat. Mag sein, dass das ein Hit wird, mag sein, dass die Bundesrepublik damit nicht Letzter wird. Dann aber nur, weil auf den Text eh keiner hört.

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