Saisonauftakt
Was Sie über die Premiere von Bizets "Carmen" im Opernhaus wissen müssen, um mitreden zu können
3.10.2021, 09:00 UhrUm was geht bei der Neuaufführung von „Carmen“?
Wie kann man eine weltberühmte Oper, die an den ihr aufgeladenen Klischees zu ersticken droht, wieder öffnen für den Blick auf den eigentliche skandalösen Kern des Werks? Der deutsch-bulgarischen Regisseurin Vera Nemirova versucht das bei der Premiere von Georges Bizets „Carmen“ am Samstag im Opernhaus.
Wo liegt der Skandal?
Nicht, dass sich eine schon von Vorlagenschöpfer Prosper Merimee und von den Librettisten Henri Meilhac and Ludovic Halévy als „Zigeunerin“ titulierte Außenseiterin aus dem proletarischen Milieu die Männer aussucht, die sie lieben will, ist bei Nemirova skandalös. Sondern, dass sie dafür in einer patriarchalischen Welt, in der vermeintliche Männerehre über allem steht, sterben muss.
Spiel im Spiel: Der Kniff der Regie
Regisseurin Vera Nemirova versetzt die Oper in die Welt eines heruntergekommenen Theaters. Die ist allerdings nur pittoresk düster. Immerhin: das Bühnenportal und die paar Theater- oder Kinositze auf der Bühne kann man als Verweis lesen auf die zahlreichen Adaptionen und Interpretationen, die dieser Stoff und seine Hauptfigur erfahren haben. Und es erinnert zugleich daran, dass jede Szene an einem öffentlichen Ort auch etwas per se Theatralisches in sich trägt.
Damit gibt die Inszenierung sich selbst die Lizenz , die vielen Spanien-, Macho-, Femme fatale- und Zigeuner-Klischees, die die lange Aufführungsgeschichte dieser Oper beschweren, auszustellen. An eine ironische Brechung oder geschärfte Zuspitzung aber wagt sich Nemirova kaum. Da wäre mehr Entschlossenheit wünschenswert.
Wie steht es um Bühne und Kostüme?
Viel zu konventionell in Szene gesetzt (Bühne: Heike Scheele) bleibt die düstere Unterschichtwelt mit ihren Feuertonnen und Spelunken und den zu Menschenschleusern mutierten Schmugglern. Damit erzeugt man heute keinen Aha-Effekt mehr.
Das gilt auch für die Kostüme (Marie-Therese Jossen-Delnon): Carmen und ihre Mitstreiterinnen Frasquita (Andromahi Raptis) und Mercedes (Corinna Scheurle) ebenso wie die Schmuggler Dancairo (Hans Kittelmann) und Remendado (Martin Platz) sollen Outlaws sein. Aber ihr Punk- und Lederlook, inklusive Damien-Hirst-Glitzerschädel auf Carmens T-Shirt ist längst angesagter Lifestyle. Früher wäre das mal Vivienne Westwood gewesen, inzwischen gibt es solches Outfit bei H & M und Primark.
Personenregie sorgt für Alleinstellungsmerkmal
Eine Ausnahmestellung aber hat Nemirovas Personenregie, vor allem wenn es um die Titelfigur Carmen geht. Diese wird markant als Einzelgängerin in Kontrast zu den in ihrer Uniformität auf Carmen abweisend wirkenden Kollektiven der Fabrikarbeiterinnen, der Soldaten oder der Stierkampfbesucher in Szene gesetzt.
Wie ist die Nürnberger Carmen-Sängerin?
Anna Dowsley verkörpert Carmen als drahtige und zugleich herausfordernde Kämpfertype, die sich, wenn sie sich wirklich mal schwach fühlt, am liebsten mit einer Selbstumarmung tröstet. Ihr Mezzo ist eine wunderschön timbrierte Naturstimme und hat zugleich die Glut, die diese Partie braucht, hat das Provozierende, das nicht nur in der berühmten Habanera zum Ausbruch kommt.
Wie stirbt Carmen?
In Carmens erotisch herausfordernden Gesten schwingt Todesverachtung mit - als würde sie ahnen, dass so viel Wille zur Freiheit und sexuellen Selbstbestimmung gegen die Gesetze einer männlich geprägten Welt verstoßen und im schlimmsten Fall mit dem Tode bestraft wird.
Dieses Skandalon prangert Nemirovas Inszenierung entschlossen an – und gewinnt dadurch die entscheidende Qualität. Im finalen Duell ist Carmen gekleidet wie eine Torera, die den Vernichtungswillen ihres Ex-Lovers Don Jose herausfordert und dafür von diesem abgeschlachtet wird wie ein Stück Vieh.
Ist Don Jose ein dumpfer Frauenmörder?
Es wäre zu einfach, Don Jose nur als dumpfen Frauenmörder zu sehen. Dazu hat ihm Georges Bizet, im Geiste des 19. Jahrhunderts ganz männerzentriert denkend, eine viel zu schöne und schwierige Tenorpartie geschrieben. Tadeusz Szlenkier meistert die emotionalen Extreme zwischen lyrischer Emphase und hysterischer Wutattacke sehr gut und überzeugt mit reichem, satt glänzendem Gesang.
Wie steht es um die anderen Figuren dieser Oper?
Weniger differenziert gezeichnet sind andere zentrale Figuren: Escamillo kommt wie in vielen anderen „Carmen“-Inszenierungen über das übliche Torero-Klischee nicht hinaus. Immerhin: Sangmin Lee gibt ihm mit kraftvollem, dunkel gefärbtem Bariton eine unheilvolle, lauernde Präsenz.
Julia Grüter überzeugt mit ihrem klaren, hellen Sopran als Micaela. Sie ist in dieser Inszenierung Backfisch und unreflektiertes Sprachrohr der Mutter von Don Jose: Er möge sie im Namen seiner Mutter heiraten und dann zu dieser zurückkehren, weil diese sich im Alter einsam fühlt, sagt sie ihm. Das aber ist kein stabiler Anker für einen unfertigen Mann wie Don Jose. Als er wegen Carmen auch noch aus dem Militär fliegt und bei den Schmugglern landet, verliert er völlig den sozialen Halt.
Wie ist die musikalische Interpretation?
Guido Johannes Rumstadt am Pult der Staatsphilharmonie Nürnberg deutet Bizets Partitur nicht so scharfsinnig und scharfkantig aus, wie es möglich wäre. Da geht der Klang trotz straffem Tempos immer wieder romantisch in die Breite, schmeicheln sich die Holzbläser in die Ohren und dürfen Streicher gerne glänzen und schwelgen anstatt mal kehlig zu kratzen. Rumstadt erzeugt nicht den Sound eines Kampfes um Leben und Tod, aber er gibt der Musik immerhin den nötigen dramatischen Drive.
Welche Neuigkeit gibt es bei den Chören?
Nach dem Lockdown wieder große Kollektive live singen zu hören, ist allein schon ein Genuss, Tarmo Vaask disponierte den Staatsopernchor für die vielfältigen Aufgaben in „Carmen“ auf den Punkt. Bei den „Gassenjungen“, die vor den Militärs eine kleine Parade abhalten müssen, handelte es sich um ein besonderes Debüt: Es war der erste Auftritt des neu gegründeten Kinderchor des Staatstheaters. Er besteht aus circa 30 Kindern, wird von Philipp Roosz geleitet, und löst den Kinderchor des Lehrergesangverein Nürnberg ab, der nicht mehr existiert.
Wie lautet das Fazit?
Mit der neuen "Carmen" setzt das Staatstheater auf jeden Fall ein Licht für die neue Saison, genauso wie für die weitere, durch die noch ungeklärten Modalitäten der Opernhaussanierung vernebelte Zukunft. Auch wenn die Inszenierung in vielem konventionell bleibt, setzt dieser anhaltend umjubelte Premierenauftakt doch ein starkes Ausrufezeichen.
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