Gravierender Lehrermangel
Bayerischer Lehrerverband warnt: "Schulsystem kurz vor dem Kollaps"
4.10.2021, 13:56 UhrStatt mit verstärkten Anstrengungen die in der Corona-Pandemie entstandenen Bildungsdefizite aufzuholen und auszugleichen, steht das "Kartenhaus" der bayerischen Schulen vor dem Zusammenfallen. So wenigstens sieht der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) die Lage wenige Wochen nach dem Start des neuen Schuljahrs. Besonders angespannt sei die Lage an den Grund-, Mittel- und Förderschulen, sagte BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann am Montag in München. Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) Wies die Kritik zurück. Das bayerische Bildungssystem sei "ein stabiles und klar konstruiertes Gebäude."
Extrem unter Druck stehen nach den Worten von BLLV-Vizepräsident Tomi Neckov die Schulleiter, die zusätzlich zu ihren Aufgaben das aufwändige PCR-Lolli-Testverfahren managen müssen. Die laut Plan vorgesehenen Zeiten für die Mitteilung der Untersuchungsergebnisse würden oft nicht pünktlich eingehalten, so dass sich die Lage kurz vor Unterrichtsbeginn immer wieder zuspitze. Zudem seien die Schulleiter vom "Verwaltungs- und Organisationswahnsinn" und einem "Bürokratieschlamassel" betroffen. Allein im vergangenen September habe das Kultusministerium 485 Seiten mit Regelungen und Anweisungen verschickt. Es häuften sich Fälle, in denen Schulleiter ihr Amt aufgeben wollten.
Der weiterhin grassierende Lehrermangel an den Grund-, Haupt- und Förderschulen habe zur Folge, dass Förderlehrer zum Stopfen von Löchern eingesetzt werden müssten und Angebote für Praxis- und Mittlere-Reife-Klassen entfielen, sagte Fleischmann. Es gebe Mittelschulen, an denen zur Hälfte fachfremdes Lehrpersonal eingesetzt werden müsse. Als Beispiele nannte die BLLV-Präsidentin Ergotherapeuten, Ethnologen, Frankreich-Wissenschaftler und auch eineDiplom-Opernsängerin. Klassen würden zusammengelegt, Arbeitsgemeinschaften und Ganztagsangebote ausgedünnt und die mobilen Lehrerreserven zum Abdecken ausfallenden Unterrichts seien zum Teil schon vollständig eingesetzt.
Studienanfängerzahl um mehr als die Hälfte eingebrochen
Das alles sind nach Einschätzungen des BLLV Anzeichen für einen anhaltenden gravierenden Lehrermangel, der sich noch verschärfen werde. Zum letzten Wintersemester sei die Zahl der Studienanfänger für das Lehramt an Mittelschulen um 54 Prozent eingebrochen. Gleichzeitig fehlen in dieser Schulart bis 2025 ohnehin 1.650 Lehrerinnen und Lehrer laut Prognose des bayerischen Kultusministeriums. Gymnasial- und Realschullehrer, die an Grund- und Hauptschulen eine Verwendung fanden, strebten wieder zurück an die weiterführenden Schulen, weil sie dort in den Genuss einer besseren Gehaltsstufe kämen, sagte Neckov.
Angesichts dieser Situation könnten die Lehrer "Schönfärbereien" der Politik nicht mehr hören, sagte Fleischmann. Während die Situation "so dramatisch wie noch nie" sei, behaupte Ministerpräsident Markus Söder (CSU), dass es in Bayern noch nie so viele Lehrer wie gegenwärtig gegeben habe. An erster Stelle der BLLV-Forderung an die Regierung steht daher "eine ehrliche und transparente Betrachtung der Realität."
Piazolo: Alle offenen Stellen besetzt
Diese Realität habe der BLLV aus dem Blick verloren, reagierte Bayerns Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) auf die Kritik des Verbands. An den staatlichen Schulen des Freistaats seien 100.000 Lehrkräfte tätig. "Noch nie gab es so viele", bekräftigte der Minister. Der Freistaat belege in Vergleichsstudien seit Jahrzehnten regelmäßig Spitzenplätze.
In den letzten zehn Jahren habe sich das Schüler-Lehrer-Verhältnis an staatlichen Grundschulen von 18,4 Schülerinnen und Schülern pro Lehrkraft auf 16,8 verbessert, listete Piazolo in seiner Gegendarstellung auf. An der Mittelschule liege der entsprechende Wert bei 11,4 (früher 13,0). Die Klassengröße liege "stabil" bei nur 21,2 Schülern an der Grund- und 19,6 an der Mittelschule. Zum Schuljahr 2021/22 hätten in Bayern alle offenen Stellen besetzt werden. Insgesamt habe der Freistaat zu diesem Schuljahr rund 4.600 voll qualifizierte Lehrkräfte eingestellt. Im Rahmen des Programms §Schule öffnet sich" seien in Bayern die Beratungskapazitäten im Bereich der Schulpsychologie seit dem Schuljahr 2018/2019 massiv erhöht worden.
Piazolo wies auch die Darstellung zurück, viele Grund- und Hauptschulen müssten derzeit ohne Schulleitung auskommen. "Weniger als ein Prozent" der Schulleitungsstellen an Grund- und Mittelschulen seien in einem laufenden Besetzungsverfahren noch nicht vergeben gewesen, sagte Piazolo, bezog seine Aussage allerdings auf das vergangene Schuljahr.
Die SPD im bayerischen Landtag schloss sich hingegen der Kritik des BLLV an. Die bayerischen Schüler bräuchten nach zwei Pandemie-Jahren jetzt Zeit für das soziale Miteinander, für gute Pädagogik und für ein gemeinsames Leben und Lernen, erklärten die Bildungspolitikerinnen Margit Wild und Simone Strohmayr. Stattdessen bekämen sie "gestresste Lehrkräfte, die unter enormen Druck stehen und Schulleitungen, die keine Zeit haben, sich mit Pädagogik auseinanderzusetzen, weil sie im organisatorischen Dickicht alleine gelassen werden."
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