Bedroht Corona-Politik unsere Grundrechte? Wissenschaftlerin warnt vor "schleichendem Prozess"
22.2.2021, 05:54 UhrFrau Guérot, FDP-Vize Kubicki hat kürzlich vor wachsender Wut in der Bevölkerung gewarnt, und die Befürchtung geäußert, diese Wut könne irgendwann auch in Gewalttätigkeit umschlagen. Sehen auch Sie diese Gefahr?
Ulrike Guérot: Auch ich sehe die Gefahr einer Spaltung der Gesellschaft. Was wir im Moment erleben, ist eine Single-Issue-Politik. Die Pandemie ist eine Gefahr für einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung und hat Auswirkungen auf praktisch alle. Einige Teile der Bevölkerung fühlen sich von der aktuellen Politik nicht mehr mitgenommen. Da besteht durchaus die Gefahr, dass sie irgendwann nicht mehr mitmachen. Wir haben in Italien erlebt, dass Gastwirte ihre Restaurants einfach wieder geöffnet haben. Jetzt können Sie natürlich sagen, wir setzen die Verordnungen auf Teufel komm raus durch und zwingen sie, zu schließen. Aber meine große Sorge ist, dass so etwas nur para-autoritär geschehen kann.
Ich habe im Moment eher den Eindruck, dass sich die meisten Menschen ganz gut mit der aktuellen Situation arrangiert haben und die Regeln hinnehmen, selbst wenn sie sie im Einzelnen nicht nachvollziehen können.
Guérot: Das ist in meinen Augen tatsächlich eine viel größere Gefahr: Dass eine Art Gewöhnung einsetzt. Dass wir uns in einem schleichenden Prozess langsam damit abfinden, dass Grundrechte in bestimmten Situationen verhandelbar sind. Wenn ich als Politikwissenschaftlerin auf den aktuellen parlamentarischen Prozess schaue, sträuben sich mir die Haare, auch im Hinblick auf kommende Krisen. Es ist für uns selbstverständlich geworden, dass die Parlamente außen vor gelassen werden und wir empfinden es fast schon als obszön, wenn man sie reinbringt, denn das dauert ja zu lange.
Und wir haben eine rege Diskussion darüber, dass China es besser kann. Das kann man natürlich so sehen, aber dann muss man sich auch bewusst sein, dass China keine Demokratie ist.
Die Einschränkungen sind temporär und gelten, solange die Pandemie es erfordert.
Guérot: Wir werden nun seit fast einem Jahr aus einer Mischung aus Expertokratie und Exekutivregierung regiert. Der Philosoph Markus Gabriel hat einmal gesagt, dass das Ziel aller Maßnahmen eine vollständige Rückführung der Maßnahmen sein muss. Aber davon redet heute keiner mehr. Sogar der Sieben-Stufen-Plan, den die FDP für einen Ausstieg vorschlägt, sieht als letzte Stufe der "Normalität" ein "Leben mit AHA-Regeln" vor. Das ist aber nicht der Zustand von zuvor.
Eine breite Impfung der Bevölkerung könnte einen möglichen Ausstieg bedeuten.
Guérot: Das kann ich nicht sehen. Die aktuelle Impf-Debatte zeigt in meinen Augen vor allem, dass es inzwischen anscheinend nicht mehr Konsens ist, dass Grundrechte weder verhandel- noch teilbar sind. An dem Tag, an dem Außenminister Maas ins Gespräch gebracht hat, man müsse Geimpften ihre Grundrechte wieder zurückgeben, bin ich wirklich sehr erschrocken. Denn daraufhin ist eine breite Diskussion darüber ausgebrochen, dass der Zeitpunkt noch zu früh sei, und man hat ihm parteipolitische Motive unterstellt. Was nicht passiert ist, ist, dass breite Teile der Gesellschaft entschieden zurückgewiesen haben, dass Grundrechte an Bedingungen geknüpft sind. Der Tabubruch hatte in diesem Moment also bereits stattgefunden.
Aber ist es nicht Aufgabe des Staates, das Leben der Bürger zu schützen?
Guérot: Wir retten in einer Demokratie nach bestem Wissen und Gewissen jedes Leben, das wir retten können. Das ist etwas anderes, als zu sagen, wir retten jedes Leben. Wir retten in einer Demokratie beispielsweise kein Leben um den Preis der Menschenwürde. Deshalb foltern wir nicht, selbst wenn wir dadurch jemanden vor dem Tod bewahren könnten. Wir haben es als Gesellschaft immer schon hingenommen, dass ein gewisser Teil der Bevölkerung an Viren, Keimen oder anderen Erregern stirbt. Die Rettung jedes einzelnen Lebens ist nicht staatliche Aufgabe, auch wenn das unpopulär klingen mag.
Also sollte sich der Staat ihrer Meinung nach vollkommen raushalten?
Guérot: Nein, absolut nicht. Der Staat darf Bürger in einer Pandemie einschränken, um die Volksgesundheit nicht zu gefährden. Was er nicht darf, ist Teile der Bevölkerung hierfür zu schädigen. Das, was im Moment gemacht wird, ist eine Triage auf einer anderen Ebene. Wir retten Leben auf Kosten derjenigen, die nicht ins Krankenhaus gekommen sind, keine Operation hatten, einen Herzinfarkt erleiden. Auf Kosten derjenigen, deren Krebserkrankungen nicht erkannt werden, auf Kosten von misshandelten Kindern und derjenigen, die Suizid begehen. Der Staat hat aber nicht das Recht, Bürger zu schädigen. Er darf nicht entscheiden, welches Leben schützenswert ist und welches nicht.
Auch nicht, wenn eine Überlastung des Gesundheitssystems droht?
Guérot: Dass das passieren würde, ist eine Hypothese. Wir schauen auf andere Länder, die komplett andere Gesundheitssysteme und Sozialstrukturen haben als wir und leiten daraus ab, dass es bei uns genau so kommen könnte.
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Dass ein solches Szenario auch bei uns drohen könnte, sagen Experten.
Guérot: Genau diese Annahme ist eines der Probleme im momentanen Diskurs: Dass es die eine Wissenschaft gibt, die die objektive Wahrheit kennt. Das stimmt aber nicht. Eine Gesellschaft ist keine mathematische Formel. Ein ungehemmtes exponentielles Wachstum der Infektionszahlen ist eine Hypothese, von der viele Wissenschaftler sagen, dass sie nicht eintreten würde, und dass das selbst in Ländern ohne Lockdown nicht zu beobachten ist. Ich will mich gar nicht in fremde Fachgebiete einmischen. Ich will nur sagen: Wir müssen den Wissenschaftspluralismus wieder stärken. Andere Sichtweisen diskutieren, abwägen. Es gibt viele Ansätze, die alle das Recht haben, gehört zu werden.
"Auch ich könnte Horrorszenarien entwickeln"
Aber ist es nicht die Pflicht des Staates, ein drohendes Szenario zu antizipieren und abzuwenden, selbst wenn es ein nur ein hypothetisches ist?
Guérot: Wir haben uns in den letzten Monaten von Simulationen von Mathematikern und Virologen leiten lassen. Das passiert aktuell auch wieder: Wenn diese und jene Mutation kommt, könnte dieses und jenes geschehen.
Wenn ich wollte, könnte auch ich solche Horrorszenarien in meinem Fachgebiet entwerfen und sagen: Wir haben seit einem Jahr die Demokratie aus den Angeln genommen. Wie ein altes rostiges Fahrrad, das man zu lange abgestellt hat, und das so verzogen ist, dass man es nie wieder so hinbekommt, wie es einmal war. Nach dem 11. September haben wir beispielsweise Maßnahmen eingeführt, die wir nie wieder zurückgenommen haben. Bis heute sind Flughäfen Hochsicherheitstrakte und man muss sich fast komplett ausziehen, wenn man in einen Flieger steigen will, obwohl Terroristen heute überhaupt nicht mehr an den Piloten herankommen würden.
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Herrscht nicht ein fast parteiübergreifender Konsens darüber, dass die Maßnahmen aktuell notwendig sind?
Guérot: Im Moment erleben wir eine weitgehende Homogenisierung der Parteien und gleichzeitig eine Verschiebung der politischen Linien. Linke Parteien setzen sich immer mehr für restriktive Maßnahmen ein, während Vorschläge zur Verteidigung der Freiheit durch die Türe der AfD kommen. Ich möchte aber nicht die AfD wählen müssen - und ich betone, ich werde nie die AfD wählen - um die Freiheit zu verteidigen.
Auch in den Medien war vor allem in der Anfangszeit der Pandemie eine Homogenisierung über alle Richtungen hinweg zu beobachten. Die Pluralität, die es früher einmal gab, kann ich heute nicht mehr erkennen.
Die Medien haben eine gesellschaftliche Verantwortung. Dazu gehört es auch, Menschen zu schützen.
Guérot: Diese Verantwortung gilt aber gegenüber der gesamten Bevölkerung, nicht nur gegenüber einem kleinen Teil. Es wäre angebracht, die Folgen der aktuellen Politik in der gleichen Dichte zu benennen, wie die Schäden, die das Virus verursacht. Aus einem falsch gedachten Schutzgedanken heraus ist das aber lange nicht geschehen. Jede Kritik wurde sofort unterbunden und Gegner der Maßnahmen diffamiert. Das hat dazu geführt, dass sich inzwischen eine breite Gegenöffentlichkeit gebildet hat, die auf alternative Seiten im Internet abgewandert ist. Was nun geschieht, ist, dass diese Gegenöffentlichkeit diffamiert wird.
Sie haben also Verständnis für die Forderungen dieser Gegenöffentlichkeit?
Guérot: Wir haben in der Putin-Versteher-Debatte begonnen, das “Verstehen” negativ zu bewerten. In Zeiten von Egon Bahr und Herbert Wehner war es etwas Positives, Moskau zu verstehen, die beiden wurden dafür gelobt. Ich finde, in demokratischen Diskussionen sollte man immer auch die Möglichkeit zulassen, dass die Gegenseite Recht haben könnte.
Was sollte die Politik in ihren Augen konkret tun?
Guérot: Wie gesagt sehe ich einen dringenden Bedarf darin, den Wissenschaftspluralismus zu stärken.
Was mir in der ganzen Diskussion bisher aber vollkommen fehlt, ist der Punkt der Eigenverantwortung. Anstatt auf das politische Instrument der Angst zu setzen, damit die Menschen alles brav mitmachen, sollte der Staat sie aus der Schockstarre holen und dazu ermutigen, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen. Auf seine Gesundheit zu achten, wo es geht, ist ein wichtiger Beitrag zur Solidargemeinschaft.
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Sie beschäftigen sich seit langem mit der Europäischen Integration. Welche Auswirkungen hat die Pandemie in ihren Augen auf diesen Prozess?
Guérot: Zunächst einmal sieht man an dieser Krise wieder ganz deutlich, dass ohne Europa gar nichts mehr geht. Ohne das 1,8-Billionen-Hilfspaket der EZB und das 750-Milliarden-Euro-Konjunkturprogramm wären wir alle aufgeschmissen.
Allerdings erleben wir im Moment eine fundamentale Verletzung des Maastrichter Vertrags. Unser Rechtsanspruch auf Unionsbürgerschaft ist faktisch außer Kraft gesetzt, wenn wir an den Grenzen danach unterscheiden, ob jemand Arbeitskraft ist, Güter transportiert oder privat reist.
Meine beiden Söhne leben in Frankreich und ich wollte sie im letzten Frühjahr besuchen, durfte aber nicht zu ihnen, weil ich keinen französischen Pass habe. Pässe zählen also plötzlich wieder. Arbeiten ist ein triftiger Grund, die Grenze zu überqueren, Mutter sein nicht. Ich habe inzwischen mit KollegInnen Klage am Europäischen Gerichtshof eingereicht, um Fälle wie diesen zu dokumentieren und aufzuarbeiten.
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