Welche psychischen Störungen bringt die Corona-Krise mit sich?
Matthias Berking: Psychische Störungen entstehen durch das Zusammenwirken von Stressbelastung und spezifischen Empfindlichkeiten. Anders gesagt: Wenn wir unter Stress stehen, schlagen unsere Schwächen durch. Mit der Pandemie haben wir einen Stressor, der je nach Veranlagung zu verschiedenen Reaktionen unserer Psyche führen kann. Manche Menschen werden dabei ängstlicher, was zur Entwicklung von Angststörungen führen kann. Personen, die eher zu Ärger neigen, werden aggressiver. Wer dazu neigt, negativen Stimmungen mit Alkohol zu begegnen, fängt in der Corona-Krise vielleicht an, mehr zu trinken und rutscht dadurch vielleicht in eine Abhängigkeitsproblematik. Vor allem bei Männern kann das dann wiederum mit aggressivem Verhalten einhergehen. Letztes Beispiel: Personen, die zu einer negativen Sichtweise neigen, haben in der Corona-Krise vielleicht Schwierigkeiten, das Ende des Tunnels zu sehen. In der Folge drohen Hoffnungslosigkeit und die Entwicklung depressiver Verstimmungen.
Kristallisiert sich eine Art Corona-Syndrom heraus?
Berking: Eher nicht. Ich würde eher von verschiedenen Beeinträchtigungs-Domänen sprechen. Wie eben beschrieben, je nach spezifischer Anfälligkeit, entwickeln Menschen verschiedene psychische Beeinträchtigungen, also Ängste, Depressionen, übermäßige Gereiztheit, Paranoia, Alkoholsucht, Spielsucht und mehr.
Eigentlich wird gerade jeder Mensch psychisch auf die Probe gestellt.
Berking: Ja, Corona beeinträchtigt jeden von uns massiv beim Befriedigen wichtiger Grundbedürfnisse, zum Beispiel nach körperlicher Unversehrtheit, nach existenzieller Absicherung, nach Orientierung und Kontrolle oder nach Bindung. Wenn diese Grundbedürfnisse bedroht sind, reagiert die Psyche mit der Aktivierung eines Alarmzustandes. Dabei wird die körperliche Aktivierung hochgefahren, so dass wir angespannter sind und gegebenenfalls auch schlechter schlafen können. Parallel werden unsere Gedanken auf die mögliche Gefahr ausgerichtet. Wir fragen uns, wie gefährlich die Situation wirklich ist. Wir versuchen, die Faktoren zu verstehen, welche die Situation beeinflussen. Wir versuchen, eine Prognose zu stellen, wie sich die Situation weiterentwickelt. All dies sind sehr sinnvolle Anpassungsreaktionen. Wenn man aber von diesen Gedanken nicht auch mal eine Pause machen kann, besteht die Gefahr, dass wir uns im ständigen Grübeln und in andauernden Sorgen verlieren. Deswegen ist es wichtig, aktiv für Entspannung und positive Aktivitäten zu sorgen.
"Gefahr, dass die Gesellschaft zerfällt"
Sie sprachen von coronabedingter Gereiztheit.
Berking. Ja, die anfängliche Schockstarre scheint sich gerade bei vielen zu lösen. Im Gegenzug nehmen Ärger und Gereiztheit zu. Ärger entsteht, wenn ich glaube, dass mich jemand oder etwas beim Erreichen meiner Ziele behindert und ich dafür keinen entschuldigenden Grund sehe. Aktuell besteht die Gefahr, dass die Gesellschaft in zwei Lager zerfällt: die Befürworter und die Gegner des Shutdowns. Erstere sehen sich durch die Gegner in ihrem Ziel behindert, für maximalen Schutz der Gesundheit vor Corona zu sorgen. Die Gegner des Shutdowns sehen sich wiederum in ihrem Ziel behindert, ihre Existenz abzusichern, oder kaum erträgliche Belastungen in der Kinderbetreuung zu reduzieren, wieder Freunde zu treffen oder endlich wieder ihrer geliebten Sportart nachgehen zu können. Wenn beide Gruppen nur auf die eigenen Ziele schauen, kann sich die aktuelle Gereiztheit zu einer bedrohlichen Spaltung der Gesellschaft aufschaukeln.
Wie können es Menschen schaffen, die Krise psychisch unbeschadet zu überstehen?
Berking: Im Bereich der eigenen Befindlichkeit heißt das Zauberwort Emotionsregulation. Corona und die dadurch bedingten Einschränkungen aktivieren diverse negative Emotionen. Wenn diese chronisch werden oder wenn ich beispielsweise zur Flasche greife, um sie loszuwerden, kommt es zu psychischen Störungen. Also muss ich üben, mit belastenden Gefühlen gut umzugehen.
Sport und Telefonate mit Freunden helfen
Wie gelingt ein guter Umgang mit Gefühlen?
Berking: Dazu ist zunächst einmal wichtig, innezuhalten und in mich hineinzuschauen, wie es mir gerade geht. Mindestens einmal am Tag. Wenn ich zu dem Schluss komme, dass es mir nicht gut geht, sollte ich beschließen, etwas für mein Wohlbefinden zu tun. Dazu gibt es drei prinzipielle Wege: Erstens, aktiv an den Problemen arbeiten, die die negativen Emotionen ausgelöst haben, sich also wieder eine Tagesstruktur aufbauen, wenn diese im Homeoffice verloren ging. Zweitens, aktiv daran arbeiten, dass ich ausreichend viele positive Erlebnisse habe, also etwa Sport machen oder mit Freunden telefonieren. Drittens, gedanklich flexibel bleiben, also an Menschen denken, die von der Krise noch stärker betroffen sind oder versuchen, so gut wie es gerade geht, Wertschätzung und Dankbarkeit zu entwickeln für Aspekte im eigenen Leben, die auch unter Corona noch ganz gut laufen.
Sie sehen in der Krise also auch eine Chance für die Psyche?
Berking: Auf eine Art ja. Wir sind ja alle nachhaltig verunsichert. Und das fühlt sich erstmal nicht gut an. Aber wir können dieses Gefühl von Verunsicherung auch konstruktiv nutzen. Wenn die bisherigen Arbeitsabläufe blockiert sind, können wir neue Abläufe entwickeln, die vielleicht in der Zeit nach Corona von Vorteil sein können. Oder wenn wir merken, dass uns körperliche Bewegung guttut, fangen wir vielleicht an zu joggen und finden Gefallen daran. So finden wir Zugang zu etwas, das wir sonst vielleicht nie gemacht hätten.
Hat sich in Coronazeiten die Zahl derer erhöht, die psychotherapeutische Hilfe suchen?
Berking: Auch wenn uns noch keine konkreten Zahlen vorliegen, so ist doch von einem höheren Bedarf auszugehen bei gleichzeitiger Unsicherheit, ob und wie man derzeit therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen kann. Für Betroffene ist es wichtig zu wissen, dass sie sich wie bisher an niedergelassene Psychotherapeuten wenden können. Bei diesen hat man jetzt üblicherweise die Wahl zwischen Therapiesitzungen im Videoformat oder klassischen Therapiestunden mit realer Begegnung.
Welche Erfahrungen gibt es mit Online-Therapien?
Berking: Therapiegespräche im Video-Streaming haben gegenüber der persönlichen Begegnung eine ganze Reihe von Nachteilen. Trotzdem können sie eine wesentliche Hilfestellung sein. Vor allem in Situationen, in denen die persönliche Begegnung nicht möglich ist.
Was macht die Corona-Krise eigentlich mit Kindern?
Berking: Je nach Temperament und Persönlichkeit leiden Kinder mehr oder weniger unter dem Wegbrechen von Strukturen. Kinder können sich üblicherweise selbst weniger gut strukturieren. Je nach häuslicher Umgebung und Unterstützung bedeutet die unterrichtsfreie Zeit, die ja trotz des vorsichtigen Schulstarts noch nicht zu Ende ist, eine große Herausforderung für sie. Hier sollte man zuweilen vielleicht die Erwartungen daran, wie viel Schularbeit in Eigenregie vom Kind bewältigt werden kann, reduzieren. Darüber hinaus fehlen vielen Kindern soziale Kontakte und Freundschaften. Wenn die Eltern nicht gut drauf sind, bietet die Schule normalerweise eine stabile Gegenwelt, die häusliche Probleme ausgleichen kann. Jetzt ist ihnen diese Alternativ-Welt weggebrochen und sie müssen mit der verbleibenden klarkommen. Damit können Familien, die Probleme mit der Bewältigung von Konflikten haben, in größere Schwierigkeiten geraten als dies in der Zeit vor den Corona-Einschränkungen der Fall war.
Gesundheitsschutz nicht aus dem Blick verlieren
Welche Lösung sehen Sie?
Berking: Die Politik legte vor allem zu Beginn der Corona-Krise den Fokus auf den Erhalt des Lebens, was in der Situation aus meiner Sicht mehr als berechtigt war. In dem Maß, in dem sich die Ansteckungszahlen stabilisieren, sollte man den Fokus aber auch auf die Probleme lenken, die mit den Corona-bedingten Einschränkungen einhergehen. Hier bedarf es meines Erachtens eines sorgfältigen Abwägens von Vor- und Nachteilen einschränkender Maßnahmen. Mit Blick auf den zunehmenden Wunsch nach Lockerungen sollte auch verstärkt darauf geachtet werden, dass die Einschränkungen mit einem wesentlichen Gesundheitsschutz einhergehen und in einem angemessenen Verhältnis stehen zu Maßnahmen, die zum Schutz vor anderen Bedrohungen für unsere Gesundheit getroffen werden.