Analyse der Parteiprogramme
Dieses Thema findet im Wahlkampf kaum statt
16.9.2021, 11:00 UhrVor vier Jahren hätten die allermeisten mit dem Wort "Pandemie" wenig anfangen können. Doch da das Coronavirus unser Leben in den letzten zwei Jahren massiv beeinflusst hat und dies immer noch tut, spielt es im laufenden Bundestagswahlkampf eine große Rolle. Das gleiche gilt für den Klimawandel - unter dem Eindruck massiver Unwetter mit mehr als 100 Toten in Deutschland kommt keine politische Partei mehr daran vorbei. Bei beiden Themen geht es um Menschenleben und die Gefährdung derselben.
Das gilt natürlich auch für den Bereich Flucht und Migration, doch fast alles, was damit zu tun hat, geht im politischen Diskurs diesertage nahezu unter. Gab es 2017 keine Talkrunde, bei der die Flüchtlingsproblematik nicht angesprochen wurde - die großen Fluchtbewegungen waren da gerade zwei Jahre her - , behandeln die Parteien dieses Thema nun unter ferner liefen.
Schub nach Machtübernahme der Taliban
Das ist auch Migrationsforschern aufgefallen, darunter die renommierte Erlanger Wissenschaftlerin Prof. Petra Bendel, die unter anderem Vorsitzende des "Sachverständigenrats für Integration und Migration" (SVR) ist. Diese "Relevanzverschiebung" haben sie und anderen Politikwissenschaftler unter die Lupe genommen und ihre Ergebnisse unlängst vorgestellt.
Demnach werde seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan Mitte August zwar wieder etwas stärker über Migration diskutiert, doch mit Blick auf die Wahlprogramme der Parteien stellen die Beteiligten nüchtern fest, dass zumindest die Regierungsparteien CDU, CSU und SPD beim Thema Migration „ihr Pulver verschossen“ hätten - und das obwohl das Thema aus
Sicht der Wähler laut Umfragen eine relativ hohe Priorität hat.
So kommt das Wort "Afghanistan" in den Wahlprogrammen der GroKo-Parteien gar nicht erst vor, hat Vera Hanewinkel vom Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück ermittelt. Sobald die Begriffe Flucht und Migration dennoch an der ein oder anderen Stelle auftauchen, werde meist "alter Wein in neuen Schläuchen" dargeboten, lautet ihre Analyse.
Union will "Fesseln" des Bundesrats abstreifen
Lediglich in einem Punkt möchte die Union deutlich nachlegen: CDU und CSU möchten Herkunftsländer von Flüchtlingen künftig ohne Zustimmung des Bundesrats zu "sicheren Herkunftsländern" erklären können, was Abschiebungen in weitaus größerem Umfang möglich machte. Woher diese Vorstoß kommt, ist klar: Die Länderkammer hat es in der laufenden Legislatur bereits zweimal abgelehnt, die Maghreb-Staaten (Tunesien, Algerien, Marokko und Westsahara) in diese Kategorie einzustufen, entgegen dem Willen der Union.
Das geht der AfD laut Hanewinkel noch nicht weit genug: Die Partei empfinde Zuwanderung nach wie vor nicht als Chance, sondern als Bedrohung, hält die Genfer Konvention von 1951 für ein „überholtes Regelwerk“ und würde gern auch den globalen Pakt für Flüchtlinge auflösen. Mit dieser Position steht die AfD indes allein, die anderen Parteien halten die Flüchtlingsproblematik nicht für ein nationales Thema, sondern für eines, das mindestens auf europäischer Ebene vergemeinschaftet werden müsse. Die Grünen werben gar für ein echtes Einwanderungsgesetz und können sich ein „Gesellschafsministerium“ vorstellen. Der Linkspartei schwebt etwas ähnliches vor, dort heißt es „Ministerium für Migration und Partizipation.“
Wenig Innovatives hat Vera Hanewinkel in den Parteiprogrammen zum Komplex „Integration“ gefunden. Zusammenfassen lässt sich das so: CDU/CSU fordern von bereits in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund wie eh und je, dass sie „unsere Werte teilen, sich an unsere Gesetze halten und unsere Sprache sprechen“. Die SPD bezeichne Migration zwar als „Chance“, bleibe aber vage bei der Erklärung, wie diese Erkenntnis in der Gesellschaft verankert werden soll. Deutlich konkreter werden die Oppositionsparteien: Die Grünen etwa können sich eine Förderung für Betriebe vorstellen, die Geflüchtete beschäftigen oder ausbilden. Die Linke geht noch weiter und will alle in Deutschland lebenden Menschen rechtlich, politisch und sozial gleichstellen.
Ratschläge der Experten werden meist übergangen
Insgesamt betrachtet haben die Empfehlungen des Sachverständigenrats (SVR) nur marginal Eingang in die Parteiprogramme gefunden, stellt die Erlanger Politologin Petra Bendel fest: „Es finden sich Sprengsel unserer Ideen hier und da, aber nichts aus einem Guß.“ So fände sich nahezu nichts Substantielles zur immer akuter werdenden Frage der Klimaflüchtlinge oder der von Migrationsexperten angemahnten Förderung von „resettlement“, also der dauerhaften Neuansiedlung besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge in einem zur Aufnahme bereiten Drittstaat, der ihnen vollen Flüchtlingsschutz gewährt und ihnen die Möglichkeit bietet, sich dort zu integrieren.
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