Nach Schätzungen der Polizei schlossen sich bis zu 17.000 Menschen dem Demonstrationszug an, der sich seit dem Vormittag formierte. Rund 20.000 waren es danach bei der Kundgebung. Diese Zahlen scheinen mit Blick auf Eindrücke unabhängiger Journalisten und Auswertung von Foto- und Videomaterial nachvollziehbar. Auf der Veranstaltungsbühne war von 1,3 Millionen Teilnehmern die Rede.
Reichsflagen und Regenbögen
Die Demonstranten forderten ein Ende aller Auflagen. Zu den Protesten unter dem Motto "Das Ende der Pandemie - Tag der Freiheit" hatte die Initiative "Querdenken 711" aufgerufen. In Stuttgart hat diese Initiative bereits wiederholt demonstriert. Kritiker dieser Proteste befürchten eine Vereinnahmung durch Verschwörungstheoretiker und Rechtspopulisten. Den Titel "Tag der Freiheit" trägt auch ein Propagandafilm der Nazi-Ikone Leni Riefenstahl über den Parteitag der NSDAP 1935.
Demo gegen Corona-Maßnahmen: Der Abgrund ist noch immer da
So war in Berlin auch die von Rechtsextremen häufig verwendeten Schwarz-weiß-rote Reichsflaggen zu sehen. Daneben wehten Deutschland- und Friedensfahnen mit Taube oder Regenbogen über den Köpfen der Teilnehmer, von deren Seiten "Wir sind das Volk", "Reiht euch ein", "Wir kämpfen für eure Freiheit" oder "Widerstand" skandiert wurde.
Aggressivität gegenüber Passanten und Journalisten
Passanten mit Mund-Nase-Schutz wurden teils aggressiv aufgefordert, ihre "Masken weg" zu nehmen. Auch Journalisten wurden angegangen. Die ZDF-Journalistin Dunja Hayali etwa brach Dreharbeiten auf Anraten ihres Security-Teams ab. Auf einem von Hayali auf Instagram geposteten Video ist zu sehen, wie Demo-Teilnehmer ihr und ihrem Team "Lügenpresse" und "Schämt euch" entgegenrufen.
Auch Passanten reagierten. "Ihr seid solche Trottel" wurde den Demonstranten per Schild entgegengehalten. An mehreren Stellen wurden Protestzug und Gegendemonstranten von Polizeieinheiten abgeschirmt. An einer Stelle waren es mehrere hundert Menschen, die sich gegen den Protestzug stellten. "Omas gegen rechts" riefen dem Zug "Nazis raus" entgegen, der Spruch schallte als Echo zurück.
"Das Freiheitsvirus hat Berlin erreicht"
Bei der anschließenden Kundgebung schienen sich Hippies, Rechtsextreme oder selbst ernannte Bürgerrechtler bunt zu mischen - auch hier ohne Abstand und Masken. Michael Ballweg, Gründer der Initiative, sagte zum umjubelten Auftakt: "Das Freiheitsvirus hat Berlin erreicht." Streckenweise erinnerte die Veranstaltung an ein Happening zwischen mitgebrachten Decken, Picknick und Camping-Stühlen. Auch dort ging es gegen "Mainstream-Medien", die "euch jeden Tag belügen", und gegen die verantwortliche Politik.
Der Polizei war das alles schließlich zu eng und zu wenig Hygiene: die Kundgebung wurde für beendet erklärt. Unter Pfeifkonzerten und Buh-Rufen wurden Teilnehmer mehrfach zur Heimkehr aufgefordert. Als Beamte begannen, die Menge aufzulösen, wurden sie zum Widerstand aufgefordert: "Verweigert den Befehl! Vor euch steht das Volk". Einige Tausend Demonstranten wichen zeitweise vor das benachbarte Reichstagsgebäude und das Bundeskanzleramt aus. Insgesamt zog sich die Auflösung bis weit in den Abend.
Festnahmen, Verletzte und Stimmen aus der Politik
Die Polizei bilanzierte das Geschehen am Sonntag nur zusammen mit anderen Demonstrationen, wobei es etwa im Bezirk Neukölln zu Auseinandersetzungen kam: Danach gab es insgesamt 133 Festnahmen. Es wurden 89 Strafermittlungs- und 36 Ordnungswidrigkeitsverfahren eingeleitet. Dabei geht es um Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Landfriedensbruch, schweren Landfriedensbruch, Zusammenrottung oder Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. Bei den Aktionen wurden 45 Polizeikräfte verletzt. Auch hier blieb offen, bei welchen Einsätzen.
Reaktionen der Politik lassen sich mit "unverantwortlich" zusammenfassen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) schrieb auf Twitter: "Ja, Demonstrationen müssen auch in Corona-Zeiten möglich sein. Aber nicht so." Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken schrieb: "Tausende Covidioten feiern sich in Berlin als "die zweite Welle", ohne Abstand, ohne Maske." Linken-Chefin Katja Kipping sprach im ZDF-"Sommerinterview" von einem "Aufruf zur Rücksichtslosigkeit". Der italienische EU-Kommissar Paolo Gentiloni twitterte, eine solche Idee von Freiheit sei nicht zum Lachen. "Das ist beängstigend."