Erlanger Völkerrechtler Safferling im Gespräch
Israel und die Hamas: Was man im Krieg darf - und was nicht
17.11.2023, 18:45 UhrHerr Safferling, beginnen wir mit einem besonders umstrittenen Fall: Nun führten israelische Truppen eine Razzia im Al-Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt durch; Israel sagt: Dort hat sich die Hamas einquartiert. Dürfen die Israelis das?
Man kann sich die kriegerische Situation vor Ort gar nicht so recht vorstellen. Was passiert da gerade? Die israelische Armee rückt mit Bodentruppen vor und sieht offensichtlich hier Hamas-Stellungen, möglicherweise auch Geiseln in Zusammenhang mit diesem großen Krankenhaus-Komplex. Nun fingen sie an, das zu durchsuchen. Das dürfen sie.
Obwohl es ein Krankenhaus ist?
Ja. Das Krankenhaus ist zunächst zwar ein ziviles Objekt und dadurch völkerrechtlich geschützt. Es genießt aber keinen absoluten Schutz – sondern nur soweit, wie es nicht als militärisches Objekt zweckentfremdet wird. Wenn die Bekämpfung dieses Krankenhauses einen militärischen Vorteil bietet, weil es für militärischen Zwecke gebraucht wird, dann ist es nicht mehr absolut geschützt und kann bekämpft werden. Wenn man es mit Bodentruppen Stock für Stock durchsucht, ist das meines Erachtens der geringstmögliche Eingriff für die Zivilbevölkerung, der denkbar ist.
Geht Israel so vorsichtig vor, wie es dies erklärt?
Man erkennt jedenfalls auf ihren Pressekonferenzen, wie sie ihr Vorgehen im Detail erläutern. Und man muss es immer wieder betonen: Auf der anderen Seite ist ganz klar, dass die Geiselnahme und das Verwenden von Zivilisten als Schutzschild nichts anderes ist als Kriegsverbrechen.
Aber niemand fragt: Was darf die Hamas, was darf sie nicht?
Sie ist eine terroristische Organisation, sie macht sich mindestens wegen Kriegsverbrechen strafbar, ohne Zweifel. Ihr gegenüber steht eine demokratische Armee, die sich verteidigt – zu Recht – gegen diese ständigen, immer noch anhaltenden Raketenangriffe vom Gazastreifen auf Israel.
Israel verhält sich, sagen Sie, also korrekt. Wie erklären Sie sich da die israel-kritische Stimmung auch in Deutschland?
Natürlich ist das Leid, das man sieht, entsetzlich. Das fängt beim Massaker am 7. Oktober an und ist aber auch jetzt in diesem unglaublich dicht besiedelten Gaza-Streifen jeden Abend in der Tagesschau zu sehen. Das weckt Emotionen, ganz klar. Auch Sympathien für die Palästinenser. Die teile ich auch: Was ist das für ein entsetzliches Leid dieser Zivilbevölkerung, die nichts dafür kann, dass eine Terrororganisation sie missbraucht! Eine Hamas, die nicht in der Lage und willens war, zivile Strukturen aufzubauen. Es gibt seit Jahren keine demokratischen Wahlen mehr – inakzeptabel.
Wie viel „Kollateralschäden“, um dieses schlimme Wort zu verwenden, dürfen es sein, also wie viele zivile Opfer? Gibt es da eine Quote – wie viel ist erlaubt, was ist zu viel?
Der Begriff des „Kollateralschadens“ kommt aus einer Verhältnismäßigkeits-Vorschrift, die das Völkerrecht vorsieht. Und die lautet: Die Bekämpfung militärischer Ziele ist nur dann erlaubt, wenn die erwarteten Opferzahlen in der Zivilbevölkerung nicht außer Verhältnis stehen zu den erwarteten militärischen Vorteilen. Das ist die Gleichung.
Das kann man sehr unterschiedlich interpretieren…
Es hat aber noch kein Gericht der Welt gesagt, dass solche Aktionen unverhältnismäßig gewesen wären. Wir hatten den Fall in Kundus, als 2009 im Rahmen des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr ein Tanklaster bombardiert wurde mit rund 100 Todesopfern. Da entschied der Generalbundesanwalt: Das war nicht unverhältnismäßig, kein Kriegsverbrechen. Der Sinn und Zweck der Norm ist vor allem, dass man vor und während einer Militäroperation ständig darauf achtet, dass das Prinzip der größtmöglichen Schonung der Zivilbevölkerung eingehalten wird. Das muss man während der Aktion immer wieder überprüfen und notfalls den Angriff einstellen, wenn das kippt. Es gibt keinen Freibrief.
Handelt Israel so?
Die Informationslage lässt eine abschließende Aussage hierzu nicht zu. Aber das Bemühen, humanitären Völkerrecht einzuhalten sehe ich schon.
Unter den Geiseln sind auch etliche mit doppelter, also auch mit deutscher Staatsbürgerschaft. Was muss, was kann Deutschland für sie tun?
Jeder Staatsbürger ist gleichermaßen schützenswert. Aktuell ist da rein praktisch kaum mehr möglich als Diplomatie – also der Versuch, auf die Kriegsparteien einzuwirken, die humanitäre Situation zu verbessern.
Wie geht es Ihnen, wenn Sie den Krieg analysieren - zwischen Kopf und Bauch, Hirn und Herz?
Mich lässt das natürlich nicht kalt. Das sind furchtbare Massaker, furchtbares Leid. Wir versuchen, ein bisschen hilflos, das mit rechtlichen Methoden anzugehen und zu regeln, was im Grunde unregelbar ist. Ich glaube, es ist trotzdem wichtig, diese rechtlichen Rahmenbedingungen, die wir nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt haben, einzuhalten und klar zu benennen. Und immer wieder dazu auffordern, dass alle diese Grenzen respektieren.
Sie waren kürzlich in New York bei den UN. Wie wirkmächtig sind denn die Vereinten Nationen noch?
Die UN bilden ja im Grunde die weltpolitische Situation nach dem Zweiten Weltkrieg ab. Das entspricht nicht mehr den heutigen Kräfteverhältnissen. Sie haben vor allem zwei Gremien: den Sicherheitsrat und die Generalversammlung. Der Sicherheitsrat ist das mächtige Instrument, die Generalversammlung dagegen zweitrangig. Im Sicherheitsrat herrscht ein Patt, weil die USA auf der einen und Russland und China auf der anderen Seite sich ständig gegenseitig mit ihrem Vetorecht blockieren. Da geht nichts voran. Das ist aber nicht neu. Die Generalversammlung bekam ein bisschen mehr Gewicht – aber inzwischen sind Gespräche auch dort schwierig. Da gibt es Mehrheitsbeschlüsse – aber die haben nicht die rechtliche Bindungswirkung wie Sicherheitsrats-Voten, es sind nur Meinungsbekundungen.
Klingt alles nicht sehr positiv…
Stimmt. Aber: Gut ist – es gibt die UN, und sie haben Mechanismen, um gerade im humanitären Bereich relativ rasch Hilfeleistungen zu organisieren und umzusetzen. Und: Es gibt die UN als Ort, wo sich verfeindete Parteien treffen und verhandeln können. Das ist ein nicht zu unterschätzendes Gut.
Wie könnte man die UN stärken?
Ich würde als Jurist mir natürlich wünschen, dass der rechtliche Rahmen stärker betont wird. Dafür müsste man die UN reformieren, an die weltpolitische Lage anpassen. Aber das wird nicht passieren. Also bleibt nur: Gespräche führen, Gespräche führen, Gespräche führen…
Der Ukrainekrieg gerät etwas aus dem Blick – wohl zur Freude Putins. Da gibt es den Haftbefehl des Strafgerichtshofs – auch ohne Folgen?
Der Haftbefehl ist da. Und immerhin hat Putin eine Reise nach Südafrika nicht gewagt. Da zieht sich die Schlinge schon ein bisschen zu – auch wenn sie noch ziemlich weit offen ist. Die Erfahrungen der Geschichte zeigen, dass es manchmal sehr lange dauert, bis etwas geschieht. Ich denke an den Bosnien-Krieg, Karadzic und Mladic, die waren viele Jahre auf der Flucht, trotz des Haftbefehls. Und dann kam es doch zum Prozess und sie sitzen lebenslang in Haft. Ähnliches gilt für den ehemaligen sudanesischen Staatschef – er ist noch nicht in Den Haag, aber er sitzt im Sudan im Gefängnis. Die Auslieferung wird verhandelt. Da zeigt sich: So ein Haftbefehl hat möglicherweise zehn, zwölf Jahre lang auch noch Wirkung.
Es braucht einen langen Atem…
Genau. Den hat die Justiz. Und: Die Taten verjähren nicht.