Taliban übernehmen die Macht

Joe Biden steht wegen Afghanistan im Kreuzfeuer der Kritik

17.8.2021, 12:07 Uhr
Joe Biden verlässt nach einer Ansprache in Washington das Rednerpult. Der chaotische Rückzug aus Afghanistan lässt ihn nicht gut aussehen.

© BRENDAN SMIALOWSKI, AFP Joe Biden verlässt nach einer Ansprache in Washington das Rednerpult. Der chaotische Rückzug aus Afghanistan lässt ihn nicht gut aussehen.

Diese Sätze dürften Joe Biden durch seine gesamte Präsidentschaft begleiten. Wahrscheinlich täte er nichts lieber, als sie zurückzunehmen. „Es wird keine Umstände geben, unter denen Sie Menschen sehen, die vom Dach einer Botschaft der Vereinigten Staaten in Afghanistan ausgeflogen werden“, hatte er Anfang Juli angemerkt, als er im East Room des Weißen Hauses über die Lage am Hindukusch sprach. Es sei höchst unwahrscheinlich, dass die Taliban „alles überrennen und das gesamte Land besitzen“. Schließlich die Reporterfrage, ob er, wie manche Vietnamkriegsveteranen, Parallelen zwischen dem Rückzug aus Kabul und dem aus Saigon sehe. „Überhaupt keine. Null“, antwortete der US-Präsident.

Nun wirken die Bilder aus der afghanischen Hauptstadt wie Kopien jener Szenen, die sich im April 1975 in der südvietnamesischen Metropole abspielten. Dasselbe Chaos, dieselbe Verzweiflung derer, die zu fliehen versuchen. Knatternde Hubschrauber im Evakuierungseinsatz. Und als Kontrast Bidens vor knapp sechs Wochen getroffene Einschätzung, die im Nachhinein auf geradezu naive Weise optimistisch wirkt. Es ist der Punkt, an dem die Kritik ansetzt, auf den sich die Kritik konzentriert. Es geht weniger um die Abzugsentscheidung als solche, mehr um ein Krisenmanagement, das angesichts des bereits vor Monaten beschlossen Abzugs im Fiasko endete. Und das ausgerechnet unter einem Präsidenten, der im Wahlkampf mit seiner Kompetenz für sich warb, mit ruhiger Professionalität, mit fast 50 Jahren Erfahrung in den Spitzenetagen der Politik, mit einem weltweiten Kontaktnetzwerk, wie es nur wenige aufbieten können.

Kaum abzuschätzender Schaden

„Warum hat man sich nicht eingestellt auf die sich abzeichnende Katastrophe? Warum hat man den Abgang nicht besser geplant?“, fragt Robin Wright, eine Afghanistan-Kennerin, deren Analysen regelmäßig in der Zeitschrift The New Yorker erscheinen. Der republikanische Senator Mitt Romney, normalerweise zu Kompromissen mit Biden bereit, spricht von einem derzeit noch kaum abzuschätzenden Schaden für die „Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit und Ehre unserer Nation“. Er könne nicht verstehen, warum der Rückzug zu derart tragischen menschlichen Kosten und ohne „effektive Strategie zum Schutz unserer Partner“ erfolge.

Das Außenministerium, bemängelt Romneys Parteifreund Michael Waltz, ein Kongressabgeordneter, der als Soldat mehrfach nach Afghanistan entsandt wurde, habe hilfesuchenden Ortskräften durch eine schleppende Bearbeitung von Visa-Anträgen viel zu lange bürokratische Hürden in den Weg gestellt. Waltz wirft Biden eine „Gefühllosigkeit“ vor, die im Falle eines nächsten Konflikts das Schmieden lokaler Allianzen immens erschweren dürfte. „Wer wird uns jetzt noch vertrauen? Wer wird uns so sehr vertrauen, dass er nicht nur sein eigenes Leben, sondern das seiner gesamten Familie riskiert, um an der Seite der Vereinigten Staaten zu stehen?“

So hart die Kritik auf den Präsidenten einprasselt, so ungerecht ist sie in den Augen derer, die ihn verteidigen. Das zentrale Argument: Biden habe nicht ahnen können, dass die afghanische Armee unter dem Druck der Taliban praktisch zerfällt, ohne auch nur einigermaßen ernsthaften Widerstand zu leisten. 83 Milliarden Dollar, rechnet das Weiße Haus vor, habe man im Laufe der Jahre für die Ausrüstung und Ausbildung der Streitkräfte Afghanistans ausgegeben. Dass 300.000 Soldaten derart schnell kapitulieren würden, habe niemand vorhersehen können.

Tatsächlich wurden die Fehlurteile, die manche nun allein dem Mann im Oval Office und dessen Beratern ankreiden, von erfahrenen Diplomaten noch vor Kurzem geteilt. Zu ihnen gehört Ryan Crocker, 2011/12 Botschafter in Kabul. Er rechne mit einem sich länger hinziehenden Bürgerkrieg, orakelte er noch vor acht Tagen in einem Interview mit dem Fernsehsender ABC. Ein solches Szenario sei viel wahrscheinlicher als eine schnelle Machtübernahme durch die Taliban.

An der Entscheidung zum Rückzug, macht die US-Regierung trotz heftiger Debatten deutlich, wird sich nichts mehr ändern. Biden habe eine Militärpräsenz beendet, den eine Mehrheit der Amerikaner schon lange nicht mehr unterstützte, betont Antony Blinken, der Außenminister. „Sieht man es mit den Augen unserer strategischer Rivalen in aller Welt, so gibt es nichts, was ihnen lieber wäre, als dass wir für weitere fünf, zehn oder 20 Jahre in Afghanistan blieben“, skizziert er das geopolitische Kalkül.

War der Einsatz ein Erfolg?

Gleichwohl muss sich auch Blinken den Vorwurf der Schönfärberei gefallen lassen. Bei „Meet the Press“, dem sonntäglichen Nachrichtenmagazin des Senders NBC, hatte er den durch die Anschläge am 11. September 2001 ausgelösten Truppeneinsatz am Hindukusch als Erfolg charakterisiert. Sollten Terroristen erneut in Afghanistan Fuß fassen, hatte er argumentiert, seien die USA viel eher als vor 20 Jahren in der Lage, sie rechtzeitig zu bekämpfen.

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