Kommentar: Man muss der Wissenschaft Zeit geben

Stephan Sohr

Chefredakteur Nürnberger Zeitung

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11.5.2020, 08:56 Uhr

Zu einer Verschwörungstheorie wird eine Kritik erst dann, wenn unbelegbare Tatsachenbehauptungen, aus dem Zusammenhang gerissene Scheinfakten oder auch komplett faktenfreie Unterstellungen als angebliche Absicht der Politik verkauft werden. Bei den Demonstrationen an der Lorenzkirche in Nürnberg am Samstag haben verschwörerisch motivierte Anliegen die ernsthaften dominiert.


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Da wurde — meist unter provozierend anmutender Missachtung der Abstandsregel und natürlich ohne Masken zu tragen — behauptet, dass die Grundrechte abgeschafft werden sollen, wo es in Wirklichkeit immer um eine zeitlich begrenzte Einschränkung ging; da wird von "Impfzwang" gesprochen – dass die Große Koalition diesen ausgeschlossen hat, fällt unter den Tisch.

Freilich, dass Bayerns Ministerpräsident Söder sich "offen" für eine Corona-Impfpflicht zeigte, hat die Debatte befeuert. Und klar, alles sei ohnehin von Bill Gates gesteuert, weil der mit einem neuen Impfstoff noch viel, viel reicher werden wolle als er ohnehin ist.


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Sicher, jede flott formulierte, aber gänzlich unbeweisbare Behauptung hat mehr Reiz als dröges Virologen-Deutsch, vor allem, wenn die Vielstimmigkeit der Experten manchmal mehr Verunsicherung schafft als Zuversicht, die Lage unter Kontrolle zu bekommen. Wer von der Wissenschaft aber Gewissheit verlangt, muss ihr Zeit geben, bisher Unerforschtes zu verstehen – wie eben das neue Coronavirus. Es ist der Wesenskern von Wissenschaft, über das Prinzip Versuch und Irrtum Neues zu erforschen.

Hätte das die Gesellschaft gewollt?

Seriöse Experten weisen genau darauf hin. Auf dieser Grundlage hat die Politik in Deutschland strenge Anti-Corona-Maßnahmen erlassen, die nun gelockert werden. Hätte die Politik weniger strikt handeln sollen, eben weil das neue Virus noch nicht komplett erforscht ist? Hätte sie tun können. Die Folge wären möglicherweise zehntausende Tote mehr gewesen und eine Volkswirtschaft, die trotzdem großen Schaden genommen hätte. Wie in Italien oder Großbritannien zum Beispiel. Hätte das die Gesellschaft gewollt?


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